© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/97  05. Juni 1997

 
 
Pankraz, W. Harich und die Sünden eines gütigen Kalfaktors
von Günter Zehm

Richard Pitsch, der Herausgeber der jetzt in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienenen Briefwechsels zwischen Wolfgang Harich und Georg Lukács aus den fünfziger Jahren, drängelt Pankraz, er solle sich doch einmal zu diesem Briefwechsel äußern, schließlich sei er in seinen Studentenjahren in der DDR von der linkspatriotischen Haltung Harichs "nicht unwesentlich" beeinflußt worden. Gut, Pankraz wird sich also äußern. Aber wahrscheinlich wird er Pitsch damit eher betrüben.

Über die Briefe selbst ist wenig zu sagen. Sie drücken keinerlei Dissidenz zur damals herrschenden Parteilinie aus, da die Kommunisten seinerzeit im Hinblick auf die Wiedervereinigung selber noch die patriotische Karte spielten. Was sofort unangenehm auffällt (bei Lukács stärker als bei Harich), ist die totale Ignoranz gegenüber dem "subjektiven Faktor". Alles in der Geschichte rollt angeblich nach ehernen marxistischen Gesetzmäßigkeiten ab, und wer das nicht glaubt, ist nichts weiter als ein existentialistischer Spinner und Klassenfeind, der – zumindest "objektiv" – die "Geschäfte der amerikanischen Imperialisten und ihrer westdeutschen Helfershelfer" besorgt. So kann man keine Politik, geschweige denn Philosophie machen.

Die Briefe zeigen auch, wie schlecht, wie steißpaukerhaft der alte Lukács schrieb. Bei Harich dagegen immerhin im Stil ein subjektiver Faktor, Temperament, gute Laune, Freude an der Polemik. Man durfte als Student diesen Harich der Vorgefängniszeit wirklich mit einigem Recht bewundern, anhimmeln, nachahmen. Umso bedrückender der Vergleich mit dem Harich der Nachgefängniszeit, einer nur noch dröhnenden Parteiverlautbarungsmaschine. Wie war eine solche Metamorphose möglich? Was war da in Hohenschönhausen und in Bautzen passiert?
Pankraz wollte lange nicht glauben, daß sich Harich schon während der Haft "wie ein Schwein" benommen habe. Aber das Zeugnis vieler verläßlicher Mithäftlinge (z. B. von Erich Loest) sprach eine nur allzu deutliche Sprache. Dabei waren es gar nicht so sehr spektakuläre Vorkommnisse, es waren vor allem gewisse, zuverlässig überlieferte Anekdoten aus dem ganz gewöhnlichen Gefängnisalltag, die gespenstische Schatten über das Andenken des W. H. warfen. Da konnte man nur noch das Haupt verhüllen.

Etwa vor jener Affäre mit den blankgeputzten Eßgeschirren, wo ein besonders schikanöser Bautzener Aufseher vor seinen Kapos, den sogenannten Kalfaktoren, verlautbart, er werde sofort nach dem Essen nachsehen, ob die Gefangenen ihre Eßnäpfe auch ordentlich wieder saubergemacht hätten. Wer mit einem ungesäuberten Eßnapf erwischt werde, wandere in den Bau.
Einer der Kalfaktoren hat einen Anflug von Herz, schleicht von Zelle zu Zelle und wispert durchs Guckloch: "Jungs, scheuert die Freßnäpfe blank, der Alte kontrolliert gleich!" Alle scheuern, und der Alte will schon eine knappe Anerkennung aussprechen, da tritt der Philosoph und Schriftsteller Wolfgang Harich vor und meldet: "Herr Wachtmeister, Häftling 246 erlaubt sich, zur Kenntnis zu bringen, daß der Kalfaktor Sowieso uns vor Ihrem Kontrollgang unerlaubterweise gewarnt hat, so daß der Erfolg der Erziehungsaktion vereitelt worden ist." Wie gesagt, ein Philosoph und Schriftsteller.

Der Alte, erzähle Erich Loest, warf einen erstaunt-giftigen Blick auf den schuldigen Kalfaktor, bestrafte ihn aber nicht. Offenbar sei selbst ihm die Servilität des W.H. zu weit gegangen, sozialistische Erziehung hin oder her. Loest weiß übrigens Erklärung für W. H.’s Verhalten. Der sei "durch das U-Boot" (eine Verhöranstalt der Stasi in Hohenschönhausen) gegangen, habe dann jahrelang in Einzelhaft gesessen. Der sei regelrecht umgebaut gewesen.
Pankraz seinerseits meldet Zweifel an gegen die populäre Psychologenthese, man könne einen Menschen via Gewalt und Einflüsterung ("Gehirnwäsche") in seinen Denk- und Gefühlszentren von Grund auf "umbauen", also in seinem Innersten völlig neu programmieren, ihm ein völlig anderes Ich einmontieren. Was nicht vorher schon drin war, das kann auch nicht mit Stumpf und Stil herausgerissen werden. Das ist nicht einmal bei Trainings-Ratten möglich, schon gar nicht beim Menschen.

Wäre der Dr. Harich nicht schon zur Zeit seines Briefwechsels mit Lukács felsenfest davon überzeugt gewesen, daß das "Objektive" gegenüber dem "Subjektiven", das Allgemeine gegenüber dem Einzelnen, ein absolutes Prä habe, so hätte er später auch nicht die Dignität des sozialistischen Erziehungsprozesses so skrupellos über die punktuelle Anständigkeit und Anwandlung eines Bautzeners Kalfaktors gestellt.

Nicht moralische Empörung verleitete ihn zur Denunziation, sondern Philosophie, Hegel-Marxsche Philosophie, "Einsicht in die Notwendigkeit". Zum "Wesen" eines Kalfaktors gehöre nun mal, sich nicht mit Mithäftlingen einzulassen, sondern unverbrüchlich auf der Seite des höchsten Allgemeinen, nämlich der Zuchthausleitung, zu stehen. Insofern war die Denunziation des ungetreuen Kalfaktors nichts anderes als die logische Fortsetzung des Gezeters gegen die Existentialisten in dem Briefwechsel mit Lukács.

In seiner Hochschätzung des Allgemeinen liegt wohl auch der Grund für Harichs "Patriotismus", seine "gesamtdeutsche Perspektive", die er auch noch nach seiner Entlassung (im Geheimen) aufrechterhalten hat, obwohl der Parteikurs da längst auf Spaltung eingeschwenkt war. Die Nation war das Ganze, die DDR war der Teil, der sich letztlich nach dem Ganzen zu richten hatte. Daß die Nation nur mit ausdrücklicher Zustimmung ihrer Teile, als Manifestation des Willens vieler (Ernest Renan), bestehen kann, hat W. H. wohl weniger interessiert.


 
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