© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/97  05. Juni 1997

 
 
An die Opfer denken
Kommentar
von Thorsten Thaler

Für die schreibende Zunft sind runde Jahrestage von geschichtsbestimmenden Ereignissen ein willkommenes Geschenk. Keine lästige Jagd nach einer neuen "Story", keine aufwendige Recherche, kein Zeitdruck beim Schreiben; statt dessen ein kurzer Anruf im Archiv, ein wenig Materialstudium – und fertig ist der so und sovielte Aufguß einer immergleichen Geschichte.
So geschieht just es in diesen Tagen. Anlaß bieten der 30. Jahrestag des Todes von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, in dessen Folge sich die terroristische "Bewegung 2. Juni" gründete, der 25. Jahrestag der "Baader-Meinhof-Offensive" im Mai 1972 und der 20. Jahrestag des "Deutschen Herbstes" mit der Entführung und späteren Ermordung des damaligen Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer.

Doch der voyeuristische Blick der Medien gilt nicht vorrangig den Opfern; nur die Täter von einst, aus denen heute längst gefällige Buchautoren (Till Meyer), Interviewpartner (Irmgard Möller, Horst Mahler) und Talkshow-Gäste (Inge Viett) geworden sind, versprechen eine Auflagen- und Quotensteigerung. Daß die Botschaft der Ex-Terroristen, "Keine Reue", klingt wie ihr damaliges "Keine Gnade", schert die Meinungsmacher hierzulande offenbar wenig.
Wer gedenkt all der heute Namenlosen und Vergessenen, die im Album der Geschichte, wenn überhaupt, nur als Fußnote vorkommen? Wer sucht das Gespräch mit den Angehörigen der Opfer, wer schreibt über die Trauer der Hinterbliebenen, über die Witwen und Kinder, die ohne Vater aufwachsen mußten?

Wer erinnert zum Beispiel an den Bootsbauer Erwin Beelitz, der im Februar 1972 bei einem Sprengstoffanschlag der "Bewegung 2. Juni" auf einen britischen Yachtclub in Berlin ums Leben kam? Wer würdigt den Zivilfahnder Norbert Schmidt, der im Oktober 1971 bei dem Versuch, drei Verdächtige zu überprüfen, von einem mutmaßlichen RAF-Mitglied erschossen wurde? Zwei Monate später mußte der Polizeibeamte Herbert Schoner bei einem Banküberfall von RAF-Mitgliedern sein Leben lassen. Doch wer kennt heute noch seinen Namen? Oder den des Hauptkommissars Hans Eckhardt, der im März 1972 erschossen wurde.Wer gedenkt der beiden Botschaftsangehörigen Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart, die bei der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm durch ein RAF-Kommando im April 1975 regelrecht exekutiert wurden? Und wer erinnert sich noch des Justizangestellten Georg Wurster, der im April 1977 wenige Tage nach dem Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback seinen Verletzungen erlag?


 
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