© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/97  05. Juni 1997

 
 
Türken in Deutschland: Kazim Aydin über den Fundamentalismus unter türkischen Jugendlichen
"Das ist Gift für die Integration"
Interview mit Kazim Aydin
Fragen: Gerhard Quast

Herr Aydin, in vielen Grund-, Haupt- und Gesamtschulen Berlins, besonders in den Bezirken Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten und Wedding beträgt der Anteil der Schüler nichtdeutscher Herkunft mehr als 50 Prozent. Ist da eine Integration überhaupt noch möglich?
AYDIN: In den Schulen dieser Bezirke sind selbstverständlich nicht überall die Deutschen eine Minderheit. Es betrifft besonders die Schulen in den Ballungsgebieten. Ich meine, unabhängig davon, wie groß diese Anzahl ist, wenn man möchte, kann man sie integrieren. Diese Integration ist nicht davon abhängig, ob die Anzahl höher oder niedriger ist. Sie ist dann möglich, wenn Deutsche und Nicht-Deutsche mit Offenheit aufeinander zugehen und auch ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit mitbringen. Das heißt nicht, daß die Türken ihre Kultur, Identität und Sprache vollkommen aufgeben müssen; ich bin aber auch nicht dafür, daß man sich von der Mehrheit abschottet und in einer eigenen Welt lebt.

Viele Kinder sprechen in ihrem Elternhaus ausschließlich Türkisch und kommen erst mit der Einschulung in Kontakt mit der deutschen Sprache. Wenn in den Klassen mehrheitlich Ausländerkinder sind, ist die Chance, daß sie die deutsche Sprache erlernen eher gering.

AYDIN: Bis zu einem gewissen Grad haben Sie vollkommen recht: Die Kinder und Jugendlichen reden in ihrer Umgebung natürlich Türkisch, das ist verständlich. Aber die Schulmisere und die Sprachdefizite sind nicht allein darauf zurückzuführen. Diese Jugendlichen werden in der Gesellschaft wie in den Schulen vernachlässigt. Die Schule hat eine Aufgabe, nach den Maßstäben des Landes die Schüler soweit zu erziehen, daß sie mit den anderen Schülern gleiche Chancen haben. Das ist für uns verdammt wichtig. Wir müssen uns deshalb darauf verlassen, daß das Schulsystem seine Aufgaben in dieser Hinsicht erfüllt, unabhängig davon, ob die türkischen Jugendlichen in den Ballungsgebieten aufwachsen oder in anderen Stadtteilen. Im Moment entsteht aber durch die mangelnde Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse eine große Diskrepanz zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen. Die Schule hat die Aufgabe, die Kinder nach Anforderung der Gesellschaft weiterzubilden. Das geschieht jedoch nicht in ausreichendem Maße.

Angesichts der wirtschaftlich immer schwierigeren Situation verschlechtern sich auch die Berufsaussichten ganz erheblich. Nimmt damit nicht auch die Bereitschaft zum Erlernen der deutschen Sprache ab?

AYDIN: Das kann ich so nicht bestätigen. Die ausländischen Kinder werden meiner Ansicht nach von vorneherein benachteiligt. Man läßt sie jeden Tag merken, daß sie keine Deutschen sind. Ich bin auch nicht der Meinung, daß man die wirtschaftliche Situation des Landes in den Vordergrund stellen sollte. Dieses Land hat Geld, aber die Verteilung ist ungerecht. Statt in Waffen zu investieren, sollte der Staat mehr Finanzmittel in die Bildungspolitik stecken. Atatürk sagte in den 30er Jahren: Wer für die Bildung seiner Kinder nicht ausreichend investiert, der vernachlässigt die Zukunft des Landes. Die große Mehrheit der nichtdeutschen Kinder hat dieses Land für sich als Heimat vorgesehen, das heißt, daß diese Kinder auch Zukunft dieses Landes sind, unabhängig davon, ob sie deutscher oder türkischer Herkunft sind. Man muß in sie investieren, damit sie in Zukunft etwas für diese Gesellschaft leisten können. Meiner Ansicht nach ist nicht nur die Schulpolitik, sondern die gesamte Ausländerpolitik gescheitert. Und man macht dann für die Misere immer die Ausländer verantwortlich.

Türkische Intellektuelle in Deutschland haben frühzeitig vor einer möglichen negativen Entwicklung gewarnt. Keiner von ihnen wurde jedoch ernstgenommen. Und nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, machen sie dafür die verantwortlich, die in den Brunnen gefallen sind. Ist die Integration der türkischen Jugendlichen also gescheitert und eine Ghettobildung unvermeidlich?

AYDIN: Nein, das möchte ich nicht sagen. Es gibt für die nichtdeutsche Bevölkerung nur einen einzigen Ausweg: sich zu integrieren. Aber unter Integration verstehe ich, daß die Leute, ohne ihre persönliche Identität aufzugeben, bereit sind, mit dieser Gesellschaft in Frieden zu leben. Das heißt beispielsweise, daß eine gegenseitige Akzeptanz vorhanden sein muß. Für die fehlende Integration sind aber nicht nur die Ausländer verantwortlich, sondern auch die Politiker, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Integration nicht geschaffen haben. Besonders ärgerlich finde ich verschiedene Gerichtsentscheidungen bezüglich des Kopftuch-Tragens in den Schulen, bezüglich des Sexualunterrichts, bezüglich der Koedukation, also der Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen, bezüglich des Sport- oder Schwimmunterrichts. Das ist Gift für die Integration! Wir sind dafür, daß türkische Kinder genauso behandelt werden wie deutsche. Im Jahr 1978 hat ein Verwaltungsgericht ein Urteil gefällt, daß katholische Kinder Sexualkundeunterricht mitmachen müssen. Heute wird durch einen Gerichtsbeschluß für Türken eine Ausnahme gemacht. Ist das eine Voraussetzung für die Integration? Ich kann für manches Verständnis aufbringen, aber nicht für diese Ungleichbehandlung! Wenn wir hier leben, ein Teil dieser Gesellschaft sind, dann müssen wir alle gleich behandelt werden.

Also keine Sonderrechte für Türken?

AYDIN: Ganz und gar nicht! Die Gesetze müssen für jeden gleich gelten. Es kann nicht sein, daß, wenn Sexualunterricht erteilt wird und verpflichtend ist, türkische Kinder davon befreit werden, während dieses Recht deutschen Kindern nicht zugebilligt wird.

Und wie erklären Sie sich ein solches Urteil?

AYDIN: Wie dieses Urteil zustande gekommen ist, kann ich nicht sagen, ich bin kein Jurist. Aber aus der Sicht der Eltern finde ich dieses Urteil ausgesprochen unglücklich, weil die Gesellschaft sich durch solche Ausnahmeregelungen noch mehr spalten wird. Ich bin nicht der Meinung, daß man bestimmten Gruppen besondere Rechte einräumen sollte. Wenn wir uns gemeinsam für die Zukunft dieses Landes einsetzen wollen, dann möchten wir gleichbehandelt werden, in jeder Hinsicht, weder schlechter noch besser. Ich will keine Sonderrechte haben! Ich möchte die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten haben.

Die beiden christlichen Kirchen setzen sich für ein Unterrichtsfach "Islamkunde" ein. Von islamischer Seite wird für einen religiösen "Islamunterricht", vergleichbar dem Religionsunterricht, plädiert.Wie sollte der Unterricht erfolgen?

AYDIN: Hier in Berlin gibt es eine Religionskunde im Sinne einer religiösen Unterweisung. Das wollen wir auch für die islamischen Kinder haben. Wir wollen eine islamkundliche Unterweisung, in der auch über die anderen Religionen gelehrt wird, damit die Kinder gegenüber den anderen Religionen Verständnis aufbringen können.

Also eine sachliche Unterweisung, aber kein Religionsunterricht?

AYDIN: Auf keinen Fall! In einem solchen Unterricht darf weder eine Koran-Unterweisung stattfinden noch die Koransprache Arabisch gelehrt werden. Die Unterrichtssprache muß Deutsch sein.

In Bayern ist das türkische Erziehungsministerium Träger der "religiösen Unterweisung für Muslime". Wer sollte Ihrer Meinung nach Träger dieser Religionskunde sein?

AYDIN: Wir wollen weder eine islamische Gruppe noch ein Ministerium der Türkei als Träger. Wir möchten, daß dieser Unterricht durch die Senats- und Schulverwaltung delegiert und kontrolliert wird. Das ist für uns verdammt wichtig, weil wir wissen, daß andere Gruppen, die für eine Trägerschaft in Frage kämen, niemals objektiv sein können.

Der Soziologe Heitmeyer hat in seiner Studie "Verlockender Fundamentalismus" eine Hinwendung türkischer Jugendlicher zu fundamentalistischen Vorstellungen festgestellt. Ist der Fundamentalismus tatsächlich auf dem Vormarsch?

AYDIN: Ich kann dieser Studie nur zustimmen. Diese Tendenz hat tatsächlich in den letzten Jahren in beängstigender Weise zugenommen. Das hat natürlich mehrere Gründe. Seit einigen Jahren gibt es in den islamischen Ländern, und eben auch in der Türkei, Entwicklungen zur Re-Islamisierung. Wir haben in der Türkei eine Regierung, die sich mehr oder weniger als islamisch bezeichnet. Dadurch ist die islamische Tendenz verstärkt worden. Aber auch die deutsche Gesellschaft hat den türkischen Jugendlichen kaum Angebote gemacht. Sie werden in vielen Bereichen dieser Gesellschaft ignoriert. Und was machen sie dann? Sie ziehen sich zurück und wenden sich den Fundamentalisten zu, die sich wiederum von der deutschen Gesellschaft und auch von Teilen der türkischen Bevölkerung absondern. Wir sind der Ansicht, daß wir nicht das Trennende, sondern die Gemeinsamkeiten betonen müssen. Wie gefährlich der Fundamentalismus für das friedliche Zusammenleben ist, das weiß ich natürlich nicht. Ich kann jedenfalls nicht gutheißen, daß diese fundamentalistischen Gruppen hier entstehen. Wenn sich dadurch ein Teil der türkischen Bevölkerung von der Gesamtgesellschaft isoliert, dann halte ich das für keine gute Entwicklung.

Zur Person:
Kazim Aydin Vorsitzender des Türkischen Elternvereins in Berlin-Brandenburg und Bundesvorsitzender der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED), ist 49 Jahre alt und kam mit 23 Jahren nach Deutschland. Seit fünf Jahren besitzt er die deutsche Staatsangehörigkeit. Parteipolitisch aktiv ist er in der SPD und HDB, einer türkischen sozialdemokratischen Organisation, die seit 25 Jahren in Deutschland existiert.


 
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