© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/97  20. Juni 1997

 
 
Rathenau: Vor 75 Jahren wurde der Reichsaußenminister ermordet
"Zerrissen wie das Volk"
von Karl-Otto Kretschmar

Am späten Vormittag des 24. Juni 1922 fuhr Walther Rathenau, auf dem Rücksitz im offenen Wagen, von seiner Villa in Berlin-Grunewald ins Auswärtige Amt. Nach wenigen Metern, an der Ecke Königsallee/Trabener Straße, zog ein schwerer Tourenwagen gleichauf, darin junge Männer in Staubmänteln und Lederkappen, ein Mann erhob sich und feuerte aus einer Maschinenpistole auf Rathenau, ein anderer warf noch eine Handgranate hinterher, der Wagen brauste davon.

Knapp vier Wochen später wurden die Attentäter Kern und Fischer, Freikorpskämpfer aus der Marinebrigade Ehrhardt und, nach deren Verbot, Mitglieder des von Ehrhardt dirigierten Geheimbunds O.C. ("Organisation Consul") auf der Saalburg bei Bad Käsen gestellt. Kern wurde von der Kugel eines Polizisten tödlich getroffen, sein Freund Fischer beging Selbstmord. Die nationale Rechte Weimars stilisierte die Attentäter alsbald in alljährlichen Gedenkfeiern zu nationalen Märtyrern.

Die Ermordung Rathenaus war der vorläufige Endpunkt jener Serie von Attentaten von "rechts", die nach der November-Revolution den bürgerkriegsähnlichen Alltag der jungen Weimarer Republik akzentuierten. Keiner der vorausgegangenen Morde und Mordversuche - wenige Wochen zuvor war ein Blausäure-Anschlag auf Philipp Scheidemann mißglückt - wühlte das Volk so auf wie der Tod Rathenaus. Im Berliner Lustgarten strömten spontan 200.000 Menschen zusammen, im ganzen Reich kam es zu Massenkundgebungen, in denen für einen Augenblick die schwache Republik neue Energien zu mobilisieren schien. Im Reichstag erhob Reichskanzler Wirth Anklage: "Einen beredteren Anwalt für die Freiheit des deutschen Volkes hätten sie in ganz Deutschland nicht finden können. Niemals habe ich einen Mann edlere vaterländische Arbeit verrichten sehen als Dr. Rathenau" Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts."

Diese Feinderklärung Wirths, verständlich aus der Empärung des Augenblicks, traf auch die gemäßigte Rechte und trug so wiederum zur Verschärfung der Atmosphäre bei. Sie erfaßte auch nicht die gesamte politische Wirklichkeit der Republik: Die extreme Linke kämpfte nicht minder verbissen gegen die bürgerliche Republik, gegen Klassenverrat und - das imperialistische Diktat von Versailles wie die Rechtsradikalen gegen die Novemberverbrecher, die jüdisch-bolschewistische Verschwörung und den Versailler Schandfrieden. Was Rathenau betrifft, so hatte er auch auf der Linken seine Feinde: Vor allem im Umfeld der USPD hatte man ihn als Kriegsverlängerer beschimpft, das Organisationsgenie dieses Großkapitalisten war den Linken so suspekt wie dessen politische Reformideen. Sie verübelten ihm Sätze wie "Den Generalstreik einer besiegten Armee nennen wir Revolution."

Die Rathenau-Mörder kamen von rechts. "Spürten wir doch sehr bestimmt, daß jene Gewalt, die uns trieb, nicht eigentlich unser eigen Wesen war, sondern Ausfluß mystischer Mächte, die zu erkennen der reine Intellekt mit all seinen Methoden nicht ausreichen konnte." Mit derlei Sätzen in seinem nach der Haftentlassung verfaßten Roman "Die Geächteten" (1929) suchte der Mittäter Ernst von Salomon der bösen Tat im nachhinein eine Art Rechtfertigung zu geben. In dem fiktiven "Gespräch" zwischen ihm selbst und Erwin Kern legt er diesem Worte in den Mund, die dem Traum von der "Deutschheit" gewisse Konturen geben sollen, in Wirklichkeit Salomons eigene nationalrevolutionären Sentiments zu Beginn einer neuen "Kampfzeit" um 1929 widerspiegeln: antiwestlich und antikapitalistisch, mit Sympathien für das bolschewistische Rußland. Kern wird als edler, von Todesahnung beseelter Held vorgestellt, der in Rathenau einen geachteten Feind sieht, "der größer ist als alle, die um ihn stehen". Rathenaus Tod soll "das Volk in seine Schicksalslinie zwingen", soll verhindern, daß "dieser Mann dem Volk noch einmal einen Glauben schenke" - gemeint war der Glaube an das verhaßte System von Weimar.

Die Hintergründe des Mordes - in wessen Auftrag handelten die jungen Attentäter? - sind bis heute nicht ganz aufgeklärt. Ganz offensichtlich spielt Salomon das Hauptmotiv der Verschwörer herunter: den Antisemitismus. Daß Rathenau in extrem rechten Zirkeln tatsächlich als einer der "Weisen von Zion" galt, kehrt bei Salomon nur als ironisch-distanzierte Pointe wieder. Tatsächlich war die Atmosphäre, in der die Attentatspläne geschmiedet wurden, ungleich banaler und primitiver: Seit der November-Revolution grassierte in ganz Mitteleuropa der Antisemitismus, die von "weißen" Emigranten aus Rußland mitgebrachten "Protokolle der Weisen von Zion" zirkulierten in hohen Auflagen. Für alles Unglück, für die nationale Schmach, die über Deutschland mit der Niederlage 1918 hereingebrochen war, hatte man in nationalen Kreisen Erklärungsmuster in Form von Verschwörungstheorien parat. Und seit Rathenaus Eintritt in das Kabinett des "Erfüllungspolitikers" Wirth kursierte unter jenen Aktivisten, die sich zur Rettung Deutschlands berufen fühlten, der haßerfüllte Reim: "Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!"

Manchen Historikern erscheint der Mord an Rathenau als geradezu zwangsläufig, als unvermeidlicher Zielpunkt seiner Biographie. Schon vor dem Weltkrieg hatte der der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau eine glänzende Rolle gespielt, erfolgreicher Repräsentant des deutschen Judentums in der wilhelminischen Gesellschaft: Großindustrieller und Bankier, Berater der Politik in Berlin, Referent auf internationalen Konferenzen, Autor von Büchern und zahllosen Aufsätzen zu Themen der Politik und der Philosophie. In der Figur des Dr. Arnheim hat Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" Rathenau als allzu elegante, in zu vielen Sujets dilettierende Erscheinung karikiert. Das Bild Musils verdeckt die eigentliche Problematik dieser Persönlichkeit, Rathenau war "zerrissen wie das eigene Volk" (Fritz Stern). Hinter seiner Eitelkeit verbarg sich tiefe Unsicherheit, Einsamkeit und bis ins Pathologische reichende Sensibilität hinsichtlich seiner jüdisch-deutschen Doppelexistenz: "In den Jugendjahren eines deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann."

Der Junggeselle Rathenau litt unter seiner Einsamkeit, er warb um Seelenfreundschaft bei seinen Freunden. Diese bewegten sich im Umkreis der von Gobineau, Wagner und Houston Stewart Chamberlain inspirierten völkischen Neoromantik. Gegenüber dem ausgeprägt "semitisch" wirkenden, "rassefremden" Rathenau kultivierte man Vorbehalte. Rathenau reagierte einerseits mit dem Aufsatz "Höre Israel!", in der er bei seinen Glaubensgenossen zu geringe Assimilationsbereitschaft sowie patriotische Indifferenz rügte, er verteidigte andererseits sein Festhalten am Judentum. Im Kriegsjahr 1916 beschwor er seinen völkisch gestimmten Freund Wilhelm Schwaner: "Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts."

Rathenau war nicht frei von Schwächen, in seinen philosophischen Schriften überwiegt der Hang zum hohen Pathos - eine zeittypische Tendenz, die auch den als "idealistisch" empfundenen Nationalismus seiner Freunde - und Feinde - kennzeichnet. Zeitlebens fühlte er sich unter einem starken Rechtfertigungsdruck, was ihn bei manchen nur umso mehr ins Zwielicht rückte.

1912 warnte Rathenau davor, England unnötig herauszufordern, er gehörte zu den Kritikern von Tirpitz" Flottenrüstung. In der Julikrise 1914 hielt er das Ultimatum Österreichs an Serbien für überzogen. Als der Krieg kam, trat er als Leiter der Rohstoffabteilung ins Preußische Kriegsministerium ein, seine Organisationskraft sicherte das Überleben der deutschen Kriegswirtschaft. Rathenau lernte seinerseits Ludendorffs Organisationstalent schätzen, unterstützte dessen Berufung an die Spitze der OHL. Als Mahner zu einem Ausgleichsfrieden, als Warner vor dem Kriegseintritt der USA wurde er den auf "Siegfrieden" setzenden "vaterländischen" Kreisen suspekt. Anfang Oktober 1918, als General Ludendorff den Krieg verloren gab und auf schnellstmöglichen Waffenstillstand drängte, behielt Rathenau kühlen Kopf: "Der Volkswiderstand, die nationale Verteidigung, die Erhebung der Massen ist zu organisieren."

In seiner 1919 veröffentlichten Schrift "Apologie" glaubte Rathenau, sich von diesem Aufruf zu einer "Levé en masse" distanzieren zu müssen, ein psychologischer Fehler. Es war Ludendorff, der im November 1919, als bereits die "Dolchstoßlegende" die Runde machte, vor dem Untersuchungsausschuß des Reichstags Rathenaus Patriotismus in Zweifel zog. Ludendorff zitierte aus einem der letzten Artikel Rathenaus, in der dieser seine bei Kriegsausbruch gehegten Zweifel hinsichtlich der Führungsqualitäten des Kaisers öffentlich gemacht hatte. Ludendorff unterstellte nun Rathenau, er habe nie an einen deutschen Sieg geglaubt. Das besagte Zitat kehrt bei Salomon in einer gespreizten Selbstreflexion des Attentäters Kern wieder.

Wer Belege für Rathenaus zweifelhaften Patriotismus suchte, wer an sinistre Machenschaften glaubte, der fand sie in Rathenaus Aktivitäten seit der Revolution: Mitgründer der Deutschen Demokratischen Partei, 1919 Berater der Regierung für die Verhandlungen in Versailles, 1920 Mitglied der Sozialisierungskommission, Teilnehmer an den Verhandlungen über die Reparationsfrage, die im Londoner Ultimatum vom Mai 1921 gipfelten, wo die Schuldensumme auf 132 Milliarden Goldmark fixiert wurde. Im selben Monat übernahm Rathenau unter Wirth den Posten als Wiederaufbauminister, als "Erfüllungspolitiker" und Jude zog er nun allen Haß auf sich. Daß die AEG zuvor einige Freikorps finanziert hatte, wollte man nicht mehr wissen.

Welche Rolle spielte der Rapallo-Vertrag, der außenpolitische Erfolg des Außenministers Rathenau, in den Attentatsplänen? Wiederum führt hier die nachträgliche Stilisierung Salomons, man habe erst jetzt den Plan gefaßt, um das "System" zum Einsturz zu bringen, in die Irre. Bereits nach seiner Rückkehr aus Genua Anfang Mai war Rathenau vor Mordplänen gewarnt worden - ein katholischer Priester hatte Wirth unter Bruch des Beichtgeheimnisses informiert. In einer Mischung aus Fatalismus und Hochmut hatte Rathenau weitreichende Sicherheitsmaßnahmen abgelehnt.

Der Mord an Rathenau steht so als bedrückendes Zeichen auf dem Weg in die deutsche Katastrophe. Festzuhalten ist hier: Teile der "nationalen Rechten", darunter Leute wie Salomon, entdeckten erst nach dem Mord ihre Vorliebe für deutsche Realpolitik im Zeichen von "Rapallo". Ihre Sympathie galt im übrigen mehr den Amibitionen des Truppenamtschefs Seeckt als der auf Ausgleich bedachten Politik des ermordeten Außenminister Rathenau. Dessen Patriotismus - Vaterlandsliebe und Vernunft - lernte man in Deutschland erst zu schätzen, als es zu spät war.
Wo man der Ermordung Rathenaus gedenkt, wird man bemüht sein, dessen historische Größe in die gewünschte Perspektive zu rücken: Rathenau, um Verständigung mit dem Westen bestrebt, habe das Rapallo-Abkommen nur unter Bedenken unterzeichnet. Zur Tragik seines Todes gehört indes noch ein anderes Faktum: Wenige Tage vor dem Attentat dachte Rathenau angesichts der französischen Kompromißlosigkeit an eine Umorientierung seiner Außenpolitik. Auf einer Zeitung notierte er unmittelbar vor seinem Tode: "Unerfüllbar".


 
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