© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/97  04. Juli 1997

 
 
Die Deutschen tanzen lassen
von Jörg Judersleben

"Hier muß es sein." Saulius stellt den Motor ab, späht angestrengt hügelabwärts. Hier, irgendwo in Südlitauen, ungefähr dreißig Minuten hinter Alytus, wo sich der letzte Sandweg zwischen Moor und Tann verläuft. Hier sagen sich Elche und Hase Gute Nacht. Und einmal im Jahr, immer zu Sankt Johannis, auch Mensch und Sonne.

Noch gibt es zu tun. Unten am See steigt Rauch in den Abendhimmel. Mit dem Hinunterkommen müssen wir uns beeilen, denn es dämmert bereits. Der Festplatz gliche einem Landsknechtslager, wären da nicht das blumenumwundene Tor und die eingegrabenen, kunstvoll mit Sträuchern besteckten Baumstämme - Kupole nennt man das. Wieso das eine Gesteck aus Brennesseln besteht? "Damit tieffliegende Hexen sich den Arsch verbrennen!" Saulius grinst. "Komm, wir helfen mit."

Noch gibt es zu tun. Blumenkränze werden gewunden, Instrumente herbeigeschleppt, Tücher mit Früchten und Fladen, Frischkäse und Selbstgebranntem beladen. Dann geht es raschen Schrittes bergan: dreißig Litauer, die Frauen mit Blumen im Haar und Schmuck an den Gelenken, die Männer mit Handys am Gürtel und Fackeln in der Hand. Dazwischen zwei Deutsche, reichlich gespannt: Werden jetzt Feuerräder ins Tal gerollt? Wird Aschewasser gegen Schwindsucht gereicht?

Keine Spur. Starkbier wird gereicht, und Brot. Der Meister begießt die Erde, streut ein paar Krümel dazu. Der erste Schluck und der erste Bissen sind für die Toten bestimmt. Danach gehen Krug und Schale von Hand zu Hand. Ein Halbkreis formiert sich, der sinkenden Sonne zugewandt, der Gesang beginnt.

Es sind die alten Lieder. Man singt sie in Quarten, nicht in Terzen wie beim Folkloreball. "Hinter dem See, hinter dem Hügel bewachte ich verweinte Kindlein, wärmte arme Hirten", spricht die Sonne in diesen Liedern; "-und mir hast du den rechten Weg gewiesen", entgegnet ihr der fremde Reiter und wartet, bis sie unten ist, um sich dann sein Mädchen aus der Kamara zu holen, und die heilige Ringelnatter windet sich wohlig in ihrem Schein. "Heidnische Bräuche, von Christen gepflegt", kommentiert Saulius lapidar. Er hat letztes Jahr geheiratet, dreifach gleich: im postsozialistischen Standesamt, in der katholischen Kirche und unter der heidnischen Eiche. Das ist keine Brauchtumspflege, sondern beinahe eine Selbstverständlichkeit. Dieses Volk kann nie richtig unfromm werden, weil es nie richtig fromm geworden ist. Die Fischergräber im Norden mit dem Kreuz am Fußende und der seltsamen Schlangensymbloik sind häufig noch keine hundert Jahre alt.

Sobald der Vollmond über dem Torgiebel steht, beginnt der Ringeltanz. Girlandengleich schlängeln sich die Menschen zwischen den Bäumen hindurch, links die Männer, rechts die Frauen. Wenn die Musik aussetzt, küßt sich, wer sich gerade gegenübersteht, dann führt man einander durchs Tor und wäscht sich das Gesicht. Mehr passiert nicht. Ein heidnischer Katholik ist beileibe kein zuchtloser Adamit.

Doch, es passiert mehr, viel mehr. Die Nacht ist strikt durchritualisiert, und alle beherrschen die Regeln. Um Mitternacht werden Kräuter gesucht, neun Stück, mit verbundenen Augen, die Wiesen stehen ja voll davon. Salomeia deutet die Zukunft daraus, bevor sie im Feuer landen. Über den Sträußen der beiden Deutschen wiegt sie ein wenig besorgt den Kopf. Er habe alle Brücken hinter sich verbrannt, bekommt der eine zu hören, den anderen schaut sie groß an: "Du mußt ein bißchen Vertrauen zu den Menschen haben." Saulius übersetzt ein wenig zögernd. Hat nicht Diane Keaton dem Großstadtneurotiker Woody Allen etwas ähnliches empfohlen?

Vertrauen hin, Vertrauen her, hierher führt uns kein Weg zurück. Nicht in die entspannte Mühelosigkeit dieser Zeremonie, die von ironischer Selbsthinterfragung so weit entfernt ist wie von heiligem Ernst. Die jeden Mißton zu überspielen vermag. - Als ein Handy piept, zucken nur die Deutschen zusammen. - "Cepulis. Hallo?" Rytis ist Vertreter einer niederländischen Arzneimittelfirma. Eigentlich ist er ja Tierarzt, aber hier ist jeder etwas ganz anderes - eine Folge der Wendezeit, die hier schon fast zehn Jahre dauert. Sogar in die Johannisnacht dringt sie ein. Aber zerstören kann sie sie nicht. Rytis wird sich dann lachend verabschieden. šbermorgen kommt sein Chef ins Baltikum, da wollen Verkaufsbilanzen schöngeredet sein. Als er geht, wird ihm lange nachgewinkt. Rytis dreht sich um und winkt zurück. Auch die Deutschen winken, kühl bis ans Herz hinan. Dann springen sie über das Feuer, als hätten sie Blei an den Sohlen. Wenn sich der Erntegott an ihnen orientiert, bleibt das Korn recht niedrig in diesem Jahr.

"Paßt auf!" Saulius gibt sanften Alarm: man wolle die Deutschen tanzen lassen. Zu spät, da kommen die Frauen schon, schwarzweiß in bunten Trachten, und nehmen sie einfach mit. Unter spitzbübischem Lachen wird zum Reigen geschritten. Zwei Tänze später, bei der Polka, zeichnet sich das Fiasko ab. Wie werden hier bloß die Griffe gewechselt, die Füße gesetzt? Am Feuer entsteht ein großes Hallo, Blitzlichtkameras werden gezückt. Verflixter Individualismus, du wolltest Attraktionen, hier bist du selber eine!

Vor dem Morgengrauen treiben dann die Kränze der Frauen, besteckt mit Kerzen, über den See. Wer einen herausfischt, darf die zugehörige Dame freien. Aber nur der Meister und ein Dorfbengel stürzen sich tapfer ins kalte Wasser, die anderen zeigen kein rechtes Interesse. Wozu auch. Hier ist jeder wohlversorgt. Fast jeder. Und außerdem fordert der Johannistrunk, gemischt aus Klarem und Rigaer Balsam, allmählich seinen Tribut. Sogar der Alte mit der Harmonika ist ein wenig eingenickt. Nur der kleine Flötist hält wacker durch.

Es geht auf fünf. Fahler Frühschein tastet sich durch den Morgennebel, läßt die Flammen verblassen. "Prächtig stehen die Wiesen vor der ersten Mahd", würde Agnes Miegel jetzt wohl sagen. - Und da ist sie ja! Da ist sie ja wieder! Glühend und stark, wie Zarathustra, wenn er seine Höhle verläßt. Ein paar Burschen entkleiden sich, wälzen sich johlend durch den Johannistau. "Was ist denn das nun wieder?" Fröstelnd streifen die Deutschen ihre klammen Jacken über. "Was das ist?" Saulius hat immer eine Antwort parat. "Nun ja - Das ist - gesund!"

Prächtig stehen die Wiesen vor der ersten Mahd.


 
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