© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/97  11. Juli 1997

 
 
Die Deutschen jenseits von Oder und Neiße
von Holger Breit

ach der staatlichen Wiederherstellung Polens im Gefolge des Ersten Weltkrieges mußte das Land mit der Unterzeichnung des Minderheitenschutzvertrages vom 28. Juni 1919 den Alliierten zusichern, allen auf seinem Staatsgebiet lebenden Angehörigen ethnischer, konfessioneller und sprachlicher Minderheiten die gleichen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte wie den polnischen Staatsangehörigen zu gewähren.

Diese Verpflichtungen wurden jedoch immer wieder auf das Gröbste verletzt. Das auf Eroberung bedachte Land bekämpfte und verdrängte dabei nicht nur die Deutschen, sondern auch andere Minderheitenangehörige. Lag der Prozentsatz der nationalen Minderheiten in der Volksrepublik gemessen an der polnischen Gesamtbevölkerung vor 1939 bei 35, so sank er nach amtlichen polnischen Angaben von 1986 auf 1,3. Angesichts der hohen Anzahl von Ukrainern, Weißruthenen, Litauern, Slowaken, Tschechen, Zigeunern, Juden und vor allem der über eine Million noch heute in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden Deutschen ist dies jedoch als starke Untertreibung bzw. Propaganda zu werten.

Noch vor Beendigung des Zweiten Weltkriegs versuchte die polnische Führung, das "Problem der Deutschen" durch deren Vertreibung zu lösen. Dieser Plan war bereits in der im Jahr 1887 in der Schweiz gegründeten Geheimverbindung "Liga polska", aus der die spätere Nationaldemokratische Partei unter Roman Dmowski hervorging, formuliert worden. Er war es auch gewesen, der mit Hilfe seiner Gewährsleute in den Vereinigten Staaten im Jahre 1919 den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson unter Verwendung gefälschter Dokumente und Volkstumskarten für seine allpolnischen Ziele gewinnen konnte. Weite Gebiete des Deutschen Reiches, insbesondere große Teile Oberschlesiens, mußten damals abgetreten werden. Das weiter gesteckte Ziel, sich des deutschen "Unflats", der deutschen Oberschlesier, zu entledigen, war erst mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg zu verwirklichen. Bereits ab Mitte Mai 1945 wurden die Deutschen "wild" vertrieben. Das Ausmaß der völkerrechtswidrigen gewaltsamen Entwurzelung der seit Jahrhunderten in Oberschlesien wie auch in den anderen ehemaligen deutschen Ostgebieten beheimateten Deutschen hatte genozidartigen Charakter. Man muß dabei von der unfaßbaren Größenordnung von über drei Millionen Vertreibungstoten ausgehen.

In den folgenden Jahrzehnten unterzeichnete und ratifizierte die Volksrepublik Polen zahlreiche völkerrechtlich verbindliche Abkommen und Vereinbarungen auf internationaler sowie bilateraler Ebene, woraus sich zweifelsfrei Verpflichtungen ergaben und auch heute noch ergeben, die sie gegenüber den im Lande verbliebenen Deutschen erfüllen muß: dies sind die "Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten" von 1950, die "KSZE-Schlußakte von Helsinki" von 1977 sowie das "Abschließende Dokument" vom Januar 1989. Die polnischen Machthaber dachten jedoch nicht daran, sich an die vertraglichen Vereinbarungen zu halten und verletzten die Rechte der Deutschen immer wieder auf das schwerste.

Angesichts ständiger Repressalien sowie des beharrlichen Leugnens der Existenz einer deutschen Minderheit – sie waren offiziellen Angaben nach "ausgesiedelt" oder "emigriert" – sowie unter den harten Bedingungen des Kriegsrechts, war es ein nicht ungefährliches Unterfangen verschiedener Einzelinitiativen der ansässigen Deutschen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Nach und nach schlossen sie sich in sogenannten Initiativgruppen zusammen, sie fühlten sich durch die Erfolge der ehemaligen Oppositionsbewegung Solidarnosc sich in ihren Bestrebungen bestärkt. So wandten sich immer mehr Deutsche mit Klagen und Eingaben auch an die zuständigen Stellen oder Gerichte. Das Wechselspiel zwischen Ablehnungen der Begehren und immer wieder neu gestellten Anträgen wiederholte sich nicht selten mehrere Dutzend Male. Die langwierigen Auseinandersetzungen mit den Behörden hatten meist staatliche Repressionsmaßnahmen zur Folge.

Im Laufe dieser Entwicklung weitete sich das deutsche kulturelle Leben immer mehr aus. Gesangsgruppen gründeten sich, in denen deutsche Lieder eingeprobt wurden, man richtete Heimatstuben ein, um den nachfolgenden Generationen anhand von Dokumenten und historischen Gegenständen die "wahre" Geschichte der Deutschen in Schlesien aufzeigen zu können oder man pflegte vom Verfall bedrohte Soldatengräber und errichtete neue Mahnmale für die Opfer der beiden Weltkriege.

Die deutschen Oberschlesier wollten sich nunmehr auch offiziell in einer Vereinigung zusammenschließen und stellten daher mutig zahlreiche Anträge auf Zulassung und Registrierung sogenannter deutscher Freundschaftskreise. Da sie nach der polnischen Staatsräson jedoch nicht existent waren, wurden ihre Begehren bis in das Jahr 1990 immer wieder abgelehnt.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch der polnischen Industrie als Folge der ineffizienten kommunistischen Planwirtschaft und die dadurch dringend benötigte Kapitalzufuhr aus dem Westen veranlaßte die neue polnische Regierung ab 1990 zu einem Umdenken in der Frage der Deutschen Minderheit. So registrierte das Woiwodschaftsamt Kattowitz, das wohl auch in der Umbruchphase im Land noch nicht von der Politik unabhängig war, am 17. Januar des Jahres erstmals einen deutschen Kulturverein. Es wurde praktisch anerkannt, daß es in diesem Teil Oberschlesiens nicht nur einzelne zurückgebliebene Deutsche gab. Von nun ab wurde eine Vielzahl von Initiativgruppen aktiv und nach und nach entsprachen die Behörden den gestellten Anträgen auf Zulassung deutscher Kulturvereine.

Um nicht der Mißachtung der Minderheiten- oder Menschenrechte beschuldigt zu werden und damit die finanzielle Förderung aus der Bundesrepublik zu gefährden, geht die polnische Führung seit Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages vom 17. Juni 1991 – er wurde wegen der Verankerung weitgehender Minderheitenrechte als Novität in den beiderseitigen Beziehungen angesehen – wesentlich subtiler vor: statt der früher typischen Menschenrechtsverletzungen, wie Verfolgungen, Verhöre mit schlimmen Mißhandlungen etc., "beschränkt" man sich jetzt darauf, die Deutschen mit Behördenmaßnahmen zu drangsalieren. So wird die im Vertrag festgeschriebene Einführung von Schulen und Kindergärten mit muttersprachlichem Unterricht ständig verzögert. Dies liegt einerseits daran, daß die Umsetzung dieser Verpflichtung in innerstaatliches Recht noch nicht vollzogen ist, es wurde lediglich am 24. März 1992 eine Verordnung vom Bildungsministerium erlassen, deren Rechtscharakter beziehungsweise Bindewirkung dem eines Gesetzes in keiner Weise gleichkommt. Demnach obliegt die Überwachung der Verwirklichung der Bildungsrechte dem Kurator, einem Woiwodschaftsbeamten, der entsprechende Gesuche bislang zu blockieren wußte. Zum anderen sind fast alle deutschen Kinder, die der Schulpflicht unterliegen, aufgrund der rigoros durchgeführten Polonisierung keine Muttersprachler. Hier müßte der Unterricht mit der Methode "Deutsch als Fremdsprache" realisiert werden.

Warum der dreistündige Deutschunterricht pro Woche gerade in den vor allem von Deutschen bewohnten Gebieten oft nicht zustande kommt – in den übrigen polnischen Landesteilen stellt dies kein Problem dar –, hat ähnliche Gründe: Die Unterrichtung in der Muttersprache der Minderheiten erfolgt "auf Basis der Freiwilligkeit". Einen entsprechenden persönlichen Antrag der Eltern nimmt der Schulleiter entgegen, wenn sich in der Grundschule mindestens sieben Schüler und in der mittleren Schule mindestens vierzehn Schüler zur Teilnahme bereit erklärt haben. Doch diese Zahl wurde in der Praxis oft nicht erreicht, da ein offenes Bekenntnis zum Deutschtum – und damit letztendlich die Offenlegung der Abstammung bei den polnischen Behörden – oftmals gravierende Folgen wie Entlassungen aus Behördendienststellen nach sich ziehen kann; gefeit waren davor lediglich die Selbständigen und Unabhängigen. Diejenigen, die ihren polonisierten Namen wieder in die muttersprachliche Form umwandeln lassen wollen, bekommen ebenso wie die Deutschen, die einen Antrag auf Austausch der einsprachig polnischen Ortsschilder verlangen, – sie fordern damit lediglich die Umsetzung einer deutsch-polnischen Vereinbarung – Schwierigkeiten durch die Behörden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Solange die einzelnen Bestimmungen des Nachbarschaftsvertrages noch nicht in innerstaatliches polnisches Recht umgesetzt sind, müßten jedoch die in Artikel 81 der alten kommunistischen polnischen Verfassung von 1952 enthaltenen Richtlinien, die noch heute Gültigkeit besitzen, einen bestimmten Schutz der Minderheitenrechte für die deutsche Volksgruppe garantieren. Darin heißt es vorbildlich: "Alle Bürger unabhängig davon, welcher Nation, Rasse und Religion sie angehören, besitzen die gleichen Rechte in allen Gebieten des staatlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens. Die Verletzung dieser Regelungen durch irgendeine indirekte Bevorzugung oder Einschränkung in den Rechten in bezug auf Nationalität, Rasse oder Religionsbekenntnis unterliegt einer Strafe."

Die wirklichen Gegebenheiten sehen jedoch leider anders aus. Mit einem an die polnische und deutsche Regierung gerichteten Problemkatalog vom Dezember 1994 – vier Jahre nach Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung", in der den Minderheiten ebenfalls volle kulturelle Möglichkeiten zugesichert wurden – machte das Präsidium sowie der Parlamentarische Kreis der deutschen Minderheit auf die zahlreichen sie immer noch drängenden Probleme aufmerksam. An erster Stelle stand dabei wiederum die Forderung nach voller Gleichberechtigung beim Zutritt zur Ausbildung in der Muttersprache.

Weshalb sich das Auswärtige Amt bis heute nicht für die berechtigten Anliegen unserer Landsleute einsetzt, bleibt eine offene Frage. So wird wohl noch eine ganze Weile vergehen, bis das Selbstbestimmungsrecht auch der Deutschen in Oberschlesien voll verwirklicht sein wird. Angesichts der Bestrebungen der Republik Polen, als gleichberechtigtes Mitglied in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen zu werden, bestehen allerdings gewisse Hoffnungen, daß dann auch dort die allgemein gültigen Standards durchgesetzt werden können.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen