© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Ägypten: Lethargie und das dichte Geflecht der Korruption bremsen den Reformprozeß
Islamismus gilt als unägyptisch
von Richard Grambow

Das Verkehrsgewühl in Kairo ist unbeschreiblich. Man kann alles sehen, was vier Räder hat: Von den zahlreichen, nicht mehr taufrischen Karossen aus Stuttgart-Untertürkheim bis hin zu vereinzelten Eselskarren. Der Smog ist so allgegenwärtig wie die Kakophonie der Autohupen – vermutlich das einzige, was an den Fahrzeugen so richtig funktioniert und deshalb ununterbrochen betätigt wird.

Ägyptens Hauptstadt ist heute ein schnell wachsender Moloch mit etwa 15 Millionen Einwohnern. Im Frühjahr ist die Stadt mit um die 25° C noch erträglich, im Sommer ist sie, zumindest für Mitteleuropäer, die Hölle.

Orientalische Ursprünglichkeit sucht man zuerst vergeblich: McDonald’s ist eben überall. Am Flughafen gehören Fast Food verzehrende Einheimische zum Begrüßungskommando. Vor allem architektonisch scheint die Nilmetropole ein Hybrid aus USA und Orient zu sein, wobei die in die Wüste wuchernden Vorstädte der Mittelschicht das aus sozialistischen Staaten vertraute Gesicht der Plattenbauweise zeigen.

Es ist die Bevölkerung, die dem Ganzen das besondere Leben einhaucht. Obwohl inzwischen wieder Sitz der Arabischen Liga, fühlen sich die Ägypter, vor allem die geschichtsbewußte Mittelklasse, ihren arabischen "Brüdern" weit überlegen. Das Erbe einer 5.000jährigen Geschichte ist hier weitaus mehr als nur Touristenattraktion. Freilich – es bringt auch Belastungen mit sich. Niemand scheint sich nämlich dieses Erbes so bewußt zu sein, wie die unübersehbar aufgeblähte Bürokratie. Sie byzantinisch zu nennen, wäre noch Untertreibung. Gemeinsam mit der allgegenwärtigen Korruption und der Lethargie, die den ägyptischen Alltag prägt, stellt sie das größte Hindernis für die 1991 eingeleiteten Wirtschaftsreformen dar. Ein besonders schmerzliches Beispiel für Korruption ist die Mitwirkung von Beamten und Grenzschützern beim noch immer regen Schmuggel der eigenen Kunstschätze ins Ausland.

Seit einiger Zeit ist immer wieder vom bevorstehenden ökonomischen Aufstieg Ägyptens zu hören. Dafür ist nicht nur die durch die – freilich stagnierende – israelisch-arabische Annäherung ausgelöste Aufbruchsstimmung verantwortlich, sondern noch mehr die Anfang 1996 erfolgte Ernennung des Technokraten Kamal al Gan-zuri zum Ministerpräsidenten. Korruptionsbekämpfung und Privatisierung der zu 70 Prozent verstaatlichten Industrie stehen ganz oben auf seinem Programm, wobei jedoch vom Suezkanal über die "Egypt Air" bis zur Erdölindustrie zentrale Unternehmen in den Händen des Staates bleiben.

Die Reformen sollen "sozialverträglich" ablaufen. Angesichts der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich (gut 20 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze) ist dies auch unabdingbar. Obwohl das Bevölkerungswachstum rückläufig ist, fehlen zur Zeit für die neu Hinzukommenden rund 200.000 Arbeitsplätze pro Jahr. Würden Reformen übereilt durchgeführt, so hört man in Kairo, könnten die drohenden Unruhen den Islamisten Auftrieb geben.

Präsident Hosni Mubarak hat die ägyptischen Islamisten mit seiner offen als "Ausrottung" deklarierten Repression – zumindest was ihren terroristischen Flügel mit der Gamaa Islamija (Islamischen Vereinigung) als der wichtigsten Organisation betrifft – vorläufig so gut wie ausgeschaltet. Anfang Juli gab es anläßlich des Prozeßbeginns gegen 98 mutmaßliche Terroristen vor dem Militärgerichtshof in Kairo sogar einen überraschenden Aufruf führender islamischer Extremisten, ab sofort auf alle Anschläge innerhalb und außerhalb des Landes zu verzichten.

Die christlichen Kopten mit ihrem Anteil von mindestens 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung stellen ein weiteres wichtiges Hindernis für die religiösen Eiferer dar. So werden die Kopten immer wieder Opfer von Gewalttaten. In den Augen mancher islamischer Extremisten hilft es diesen "Ungläubigen" auch nicht, daß der Patriarch der Kopten in der Jerusalem-Frage einen scharf anti-israelischen Kurs steuert. Am 16. April hatte er in einem aufsehenerregenden Appell gemeinsam mit dem wichtigsten moslemischen Geistlichen Ägyptens, dem Groß-Scheich der Kairoer Azhar-Universiätät (der bedeutendsten Institution der Sunniten überhaupt), zur Befreiung der "Heiligen Stadt" und der besetzten arabischen Gebiete aufgerufen. Bis zur Schaffung einer gerechten Friedensordnung sollten die Beziehungen zu Israel auf Eis gelegt werden, forderte der Patriarch.

Des weiteren fühlen sich viele gläubige Moslems – nicht nur aus der Mittelschicht – zuerst als Ägypter und halten gegenüber dem westlichen Gast mit Kritik an den als unägyptisch empfundenen Islamisten nicht zurück.

Wie schwierig der Reformprozeß sich gestalten kann, haben in den zurückliegenden Monaten die Auseinandersetzungen der Sicherheitskräfte mit protestierenden Bauern wegen des neuen Landpachtgesetzes gezeigt. Mit diesem soll im Oktober das in den 50er Jahren im Zuge einer sozialistischen Landreform zugunsten von Kleinbauern enteignete Land an die rechtmäßigen Besitzer zurückerstattet werden. Doch die meisten Bauern denken nicht daran, das Land freiwillig abzugeben. Bei Zusammenstößen waren bis Mitte Juli mindestens neun Todesopfer zu beklagen. Die Regierung vermochte die aufgebrachten Bauern bislang auch durch das Versprechen nicht zu beruhigen, ihnen Sonderkredite und neu urbar gemachten Boden in der westlichen Wüste zur Verfügung zu stellen.

Daß die Ägypter sehr wohl nach westlichen Maßstäben arbeiten können, beweisen die knapp drei Millionen von ihnen, die – oft als Ingenieure oder Lehrer – im Ausland tätig sind und die reichen Golfstaaten erst funktionieren lassen. Inzwischen bemüht man sich verstärkt um die auf über 60 Milliarden Dollar geschätzten Gelder, die von diesen Leuten außer Landes transferiert worden sind. Setzt hier ein nennenswerter Rückfluß ein, so werden auch die Auslandsinvestitionen zunehmen. Darauf ist Ägypten angesichts zurückgehender Subsidien aus den USA und den Golfstaaten unbedingt angewiesen.

Mit einem zukunftsträchtigen Markt von über 60 Millionen vergleichsweise ordentlich ausgebildeten Menschen, einer in den vergangenen 15 Jahren respektabel ausgebauten Infrastruktur und der tiefverwurzelten Händlermentalität besitzt das Nilland wichtige Voraussetzungen, um den asiatischen "Tigerstaaten" nacheifern und zu einem "Arabischen Löwen" werden zu können, wie Mubarak sein Land so gern nennt.

Vorerst jedoch bleibt, neben Subsidien und den Auslandsüberweisungen ägyptischer Fachleute, der Tourismus wichtigster Devisenbringer. Das Geschäft auf dem Reisemarkt hat sich von seinem durch Golfkrieg und Terrorismus Anfang der 90er Jahre erlittenen Einbruch erholt. Um das einzigartige Erbe der pharaonischen Altertümer in bare Münze umzusetzen, werden große Anstrengungen unternommen: Erst im Mai dieses Jahres eröffnete der Präsident voller Stolz den restaurierten Amun-Mut-Chons-Tempel in Luxor. Das aus 16 Säulen bestehende, um das Jahr 1.380 v. Chr. errichtete Bauwerk drohte in Folge der Unterspülung durch Abwässer einzustürzen.

Eine gigantische Zukunftsinvestition ist die bis zum Jahr 2000 geplante Schaffung des "größten Freilichtmuseums der Welt" im Tal der Könige bei Luxor. Zu diesem Zweck sollen Grabmäler altägyptischer Herrscher mit Monumenten aus der Pharaonenzeit und sämtlichen archäologischen Schätzen der Region in einem abgegrenzten Gelände zusammengefaßt werden. Für die knapp 10.00 Menschen, die in dem betreffenden Gebiet beheimatet sind, werden neue Siedlung errichtet.


 
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