© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Philosophie: Günter Rohrmoser über den Grundsatz "Konservativ heißt, geschichtlich denken"
"Ein Vakuum rechts von der Mitte"
Fragen: Hartmut Jericke

Herr Professor Rohrmoser. Die jüngsten Wahlen in Frankreich haben erneut gezeigt, daß der Front National des Jean-Marie Le Pen über ein stabiles Wählerpotential von etwa 15% verfügt. Auch in Deutschland sehen Wahlforscher ein ähnlich hohes Wählerpotential für eine rechte Partei. In der Bundesrepublik konnte sich dagegen auch eine demokratische Rechtspartei bislang nicht etablieren. Worin liegt dies begründet?

Rohrmoser: An sich gehört zu einer normalen Demokratie auch, daß die Legitimität einer rechtsdemokratischen Partei selbstverständlich ist und anerkannt wird. Das gibt es in allen anderen Demokratien, warum sollte es dies nach 50 Jahren nicht auch bei uns geben? Aber das ist nicht das Problem. Unser Problem ist das Vakuum, das rechts von der Mitte entstanden ist, also in dem Bereich, der früher von der CDU und noch ausgeprägter von der CSU abgedeckt worden ist, dem die Bundesrepbulik letztlich jedoch ihre Prosperität und Stabilität zu verdanken hat. Der Ausfall der rechten Mitte könnte morgen für unsere Demokratie katastrophale Auswirkungen haben. Denn wenn die CDU weder willens oder vielleicht auch gar nicht mehr in der Lage ist, auch dieses Spektrum unserer Gesellschaft mit abzudecken, die dort vorhandenen Kräfte politisch zu repräsentieren und deren politischen Willen zum Ausdruck zu bringen, dann wird sie vielleicht schon morgen eine Koalition mit den Grünen zustande bringen. Sie könnte damit endgültig den Weg für eine wirkliche Rechtspartei freimachen, die dann dazu beitragen könnte, unsere Demokratie zu entstabilisieren.

Wie müßte sich demgegenüber eine systemimmanente Rechtspartei gegenüber dem Liberalismus bzw. gegenüber einem klassischen Nationalismus oder Chauvinismus abgrenzen?

Rohrmoser: Ihre Frage läuft im Grunde genommen auf die Abgrenzung von rechts und konservativ hinaus. In Deutschland findet eine faktische Gleichsetzung und die daraus resultierende Gleichbehandlung von konservativ mit rechts bis faschistisch statt. Jemand, der eine normale, patriotische Regung zum Ausdruck bringt, gerät damit bereits unter Faschismusverdacht. Schon wenn er einige der konservativen Topoi, die in anderen Ländern als völlig normal gelten, vielleicht etwas selbstbewußt artikuliert, dann wird sofort mit der Faschismuskeule auf ihn eingeschlagen. Wenn man nach den Gründen hierfür sucht, wird man sie in der Art und Weise finden, wie wir geglaubt haben, die Vergangenheit bewältigen zu können. Die Grundthese lautet dabei, daß die Konservativen der Herrschaft des Nationalsozialismus und damit dem Untergang Deutschlands den Weg bereitet haben. Um eine Wiederkehr gleich schrecklicher Dinge zu verhindern, müßte daher jede nicht nur allgemein, sondern auch politisch gemeinte Regung oder Artikulation konservativen Gedankens im Keime erstickt werden.

Hatten die Konservativen in der Weimarer Republik nicht doch einen beachtlichen Anteil an der Genese des Nationalsozialismus?

Rohrmoser: Es stellt sich die Frage, ob die Konservativen der zwanziger Jahre in diesem Sinne überhaupt alle konservativ gewesen sind. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem national-revolutionären Gedanken eines Ernst Jünger damals und der Position, die etwa Carl Schmitt vertreten hat. Carl Schmitt wird heute ganz selbstverständlich den konservativen Revolutionären zugerechnet, was mir völlig unbegründet und unberechtigt zu sein scheint. Seine Position ist vielmehr eine letztlich aus christlich konservativer Herkunft entwickelte Form des Konservativismus. Schmitt ist politisch ein Etatist gewesen und bis 1933 immer um die Rettung von Weimar bemüht gewesen. Gerade am Beispiel Carl Schmitts läßt sich aber auch zeigen, daß unsere gegenwärtige Lage eine andere ist und daß man die Modelle der Weimarer Republik nicht auf unsere Situation übertragen kann.

Was heißt das konkret?

Rohrmoser: Zunächst muß man feststellen, daß der Konservativismus als Ideologie dem Verschleiß genauso unterworfen ist wie etwa der Sozialismus oder der Nationalismus. Alle auf dem Boden der Französischen Revolution unter Zugrundelegung der Aufklärungsphilosophie entstandenen ideologischen Formationen, wie auch die Reaktionen auf sie, zu denen in seiner letzten historischen greifbaren Erscheinungsform auch der Konservativismus der Weimarer Republik gehört, halte ich für geschichtlich erledigt. D.h. wenn wir Konservativismus heute neu bestimmen wollen, müssen wir auch das Verhältnis zwischen konservativ und rechts neu bestimmen. In der gegenwärtigen Diskussion bedeutet rechts nichts anderes als jede Position, die im Kern aus den Traditionen des Nationalismus entwickelt an dem Gedanken der nationalen Selbstbehauptung, der nationalen Selbständigkeit und an einem gewissen unverzichtbaren Maß an Souveränität festhält.

Als Alternative zu einem globalen Internationalismus?

Rohrmoser: Sicher. Diese Position wird durch die Globalisierung, durch die Internationalisierung der Politik und durch die Maastricht-Europa-Entwicklung in Zukunft sogar noch an Stärke gewinnen. Es wäre eine Illusion zu glauben, daß dieser Gedanke nationaler Eigenständigkeit und Selbstbehauptung sowie relativer Souveränität erledigt sei. Nein, er kehrt in gewisser Weise wieder und wird morgen die Debatte in Deutschland mehr bestimmen als die meisten es sich vorstellen können. Aber viel tiefgreifender und schwieriger ist es, unter den Bedingungen der Gegenwart zu denken, was jetzt eigentlich konservativ ist und welche Herausforderungen es sind, denen sich der Konservative stellen muß. Das erste und entscheidende scheint mir dabei zu sein, daß wir wieder lernen müssen, geschichtlich zu denken. Das Ende der Großutopien zwingt uns zur Besinnung auf die Geschichte. Wenn wir überhaupt noch eine geistige Substanz für die Zukunft in Anspruch nehmen wollen, wird diese aus der Reflexion und der Besinnung auf die Geschichte und das geschichtliche Erbe zu gewinnen sein. Nicht geschichtlich zu denken und auch nicht die Geschichte als eine gegenwärtige bedeutsame Kraft wieder in Rechnung zu stellen, bedeutet nichts anderes als den Nihilismus, der mit seinen unangenehmsten Folgen bereits unter uns zu grassieren beginnt. Das zweite ist, daß der Konservativismus ein unverzichtbares Gegengewicht zu einem Liberalismus darstellt, der ins abstrakt Allgemeine oder auch Universale umkippt und der kulturell libertär einen Individualismus kultiviert. Dieser aber führt, wie Nietzsche richtig vorhergesehen hat, zur atomistischen Revolution, d.h. zur Auflösung der Gesellschaft. Der Liberalismus selber ist demzufolge nur handlungs- und überlebensfähig, wenn er als seinen Gegenhalt und Korrelat einen Konservativismus hat. Ein Liberalismus, der diesen Gegenhalt nicht hat, läuft ins Leere. Er beraubt sich damit seiner eigenen Möglichkeit, seine Existenznotwendigkeit nachzuweisen. Die außer Gleichgewicht geratene Entwicklung in Deutschland hängt mit dem Ausfall eines solchen Konservativismus zusammen, der nicht Feind des Liberalismus ist, aber einen ausgleichenden, relativierenden und stabilisierenden Gegenhalt zu einem ins Hypertrophe drängenden Liberalismus spielt.

Der Konservativismus ist also eine unbedingte Notwendigkeit für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft?

Rohrmoser: So ist es. Der Konservativismus stellt eine Reflexion auf die elementaren Grundlagen dar, ohne die es eine Gesellschaft nicht geben kann. Ich will damit sagen, daß die Postmoderne den Begriff der Einheit, der als totalitär verdächtigt sozusagen aus dem politischen Vokabular ausgeschieden worden ist, wieder so konkret denken muß, daß sie in der Lage ist zu erkennen, daß Einheit die Bedingung der Möglichkeit für die Vielfalt ist. Denke ich die Vielfalt ohne Einheit, dann befördere ich die Anarchie.

Steht das nicht im Widerspruch zu der Behauptung, wir lebten in einer Konsensgesellschaft?

Rohrmoser: Der Ruf nach dem Konsens erschallt nahezu ohne Unterlaß. Aber er geht mehr und mehr ins Leere, weil die substantielle Kraft fehlt, aus der heraus ein Konsens gebildet werden könnte. Genauso ins Leere geht die Debatte, der zufolge die Bundesrepublik eine Konsens- oder Konfliktgesellschaft sein soll. Das ist eine völlig abstrakte Diskussion, denn eine moderne Gesellschaft braucht Konsens in gleichem Maße wie sie Konflikt braucht. Ein Konflikt, der nicht an der Bildung eines neuen Konsenses orientiert ist, führt zur Gesellschaftszerstörung. Ein Konsens, der nicht die Kraft hat, auch den Konflikt auszuhalten, mündet in der Sklerotisierung und der Erstarrung. An dieser falschen Entgegensetzung von Konsens und Konflikt läßt sich die ganze Entwicklung in der Bundesrepublik seit 1949 zeigen. Es liegt nun einmal im Wesen des konservativen Gedankens und seiner Tradition, daß eine Gesellschaft sich jeder Konsensmöglichkeit beraubt, wenn sie nicht in der Lage ist, auch die essentielle Notwendigkeit für den gesellschaftlichen Bestand des Konservativismus einzusehen. Wenn auch künftig in jeder öffentlichen Debatte Konservative nur als Alibi zugelassen werden oder überhaupt unberücksichtigt bleiben, dann werden sich die am Konflikt ausrichtenden destruktiven Tendenzen in unserer Gesellschaft verstärken. Darum ist Konservativismus heute, ganz im Unterschied zu seinen bisherigen historischen Formationen, in der er bedrohte gesellschaftliche Bestände und Strukturen gegen überbordende Progressivität bewahren wollte, in diesem Sinne ein elementares Gebot der Gesellschaftserhaltung als solcher.

Und wenn die Konstitutierung einer starken und wirkmächtigen konservativen Kraft als notwendiges Regulativ nicht klappt?

Rohrmoser: Es wäre eine optische Selbsttäuschung zu glauben, es gäbe den Konservativismus nicht. In allen übrigen Demokratien ist der konservative Gedanke ein integraler Bestandteil. Das läßt sich am Beispiel des Christentums in Amerika demonstrieren. Die Anstrengungen, mit denen Amerika sich aus den Untiefen liberaler Dekadenz zu befreien sucht, geht zurück auf die Existenz einer christlichen Rechten. Diese christliche Rechte in Amerika vertritt politisch alles das, was man in der Welt unter konservativ versteht. Ihr politischer Erfolg ist so groß, daß ohne Berücksichtigung dieser neuen Kraft keine Politik mehr möglich ist. Nehmen Sie Frankreich. Dort hat es immer eine tief in der französischen Mentalität beruhende und verankerte konservative Kraft und konservative Infrastruktur gegeben und es lassen sich in Frankreich ähnliche Entwicklungen beobachten, die auf ein weiteres Erstarken des Konservativismus hinweisen. Oder Rußland. Die 20 Philosophen an der Moskauer Akademie der Wissenschaft können sich für Rußland überhaupt keine Zukunft mehr ohne Konservativismus vorstellen. Rußland ist heute so selbstverständlich konservativ, daß keiner auf die Idee käme, dies in Frage zu stellen. Der Konservativismus scheint für die Russen vielmehr der einzige mögliche Weg zu sein, aus dem Chaos herauszukommen, welches der Sozialismus hinterlassen hat.

Wird also auch die Bundesrepublik konservativer?

Rohrmoser: Wer die Entwicklung in der Bundesrepublik genau beobachtet, kann nicht übersehen, daß unterhalb der Schwelle der organisierten öffentlichen Meinung die konservativen Kräfte wachsen und dabei sind, weiter nach rechts zu rücken als es unseren Regierenden lieb ist. Eine der gefährlichsten Entwicklungen besteht darin, daß sich die offizielle Medienkultur, wie auch die Sprachkultur der Politiker inzwischen in einem riesigen Ausmaß von dem Empfinden und dem Urteil des Volkes entfernt hat. Dies stellt für die Demokratie die vielleicht gefährlichste Bedrohung dar. Aber ich möchte betonen: Konservativismus kann man nicht machen. Konservativismus ist keine Ideologie, sondern konservativ heißt, die Wirklichkeit im Blick zu behalten, die Realitäten dieser Welt ernsthaft zu berücksichtigen und dem, was in der Wirklichkeit auf dem Wege ist und zur Manifestation dringt, vielleicht auch sprachlich und intellektuell zu einem Ausdruck zu verhelfen. Insofern ist die große Philosophie in Europa, von Aristoteles bis einschließlich Hegel, nach unserem Verständnis von konservativ tatsächlich konservativ gewesen. Hegel hat dies abschließend auf die Formel gebracht, daß Philosophie nichts anderes sei, als zu begreifen, was ist. Das Konservative kann es nur geben, wenn die Wirklichkeit im Hegel’schen Sinne auch eine Vernunft in sich trägt. Wird die Wirklichkeit als total absurd und unverbindlich gesehen, dann ist ein Konservativismus nicht mehr möglich. Wäre dies der Fall, dann stünden die Zeichen allerdings auf Sturm und die Bedingungen einer neuen Revolution reiften heran.

Heißt die Alternative für die Zukunft demnach: Europa muß und wird konservativ werden oder es droht die Anarchie?

Rohrmoser: Nicht im Sinne einer Forderung. Was Europa ist und Europa bedeutet, ist eine Frage, die nicht nur gänzlich offen ist, sondern die in unserem Lande überhaupt nicht diskutiert wird. Wir vergessen ständig, daß wir uns mit Maastricht auf ein Experiment einlassen, das in der Geschichte ohne Beispiel ist, und daß wir dieses europäische Experiment nur in den Kategorien von Ökonomie, Soziologie und Administration diskutieren. Wir sehen die EU also als ein ungeschichtliches Projekt, ohne dabei die geschichtlichen Wirklichkeiten Europas zu berücksichtigen. Wie sich dieses den Völkern aufoktroyierte Projekt zu dem geschichtlichen wirklichen Europa verhalten wird, darüber sind im Augenblick Prognosen nur schwer möglich. Vielleicht werden wir morgen ein einziger riesiger Markt von bloßen Produzenten und Konsumenten ohne daß es noch Franzosen, Engländer, Deutsche oder sonstwen gäbe. Dazu aber ist mit Ausnahme des deutschen Volkes - jedenfalls wenn wir den Reden unserer Politiker folgen - kein anderes europäisches Volk gegenwärtig auch nur im Traume bereit. Ich glaube aber nicht daran. Vielmehr denke ich, daß auch die Deutschen nicht hinnehmen wollen, sich einer neuen europäischen Handels- und Wirtschaftsunion zur noch erfolgreicheren Ausbeutung der Natur mit noch größerem Gewinn für das Kapital zur Verfügung zu stellen.


 
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