© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Verfassungsschutz: Staatsanwalt ermittelt gegen Kriminalbeamten
V-Mann Axel Reichert
von Frank Liebermann

Wenn sich eine Behörde etabliert aber keine Arbeit mehr hat, beginnt sich diese selbst zu beschäftigen. Diese aus der Organisationslehre bekannte grundlegende Theorie bestätigt sich in der Praxis immer wieder. Ganz besonders dann, wenn man manche Verfassungsschutzbehörden unter die Lupe nimmt. Nach dem Gesetz ist der Verfassungsschutz dazu da, den Staat vor allen möglichen Bedrohungen zu schützen. Militante Kurden, Linksextremisten, die ganze Straßenzüge besetzt halten oder die terroristischen "Antiimperialistischen Zellen" genügen den Staatsschützern offenbar nicht mehr. In Baden-Württemberg wurden zahlreiche Neonazi-Aktivitäten von staatlichen Organen initiiert.

Einer der drastischsten Fälle ist der des Kriminalbeamten Axel Reichert. Der V-Mann entfaltete seine Aktivitäten in der Gegend um Karlsruhe. Nach seiner Selbstenttarnung im vergangenen Jahr äußerte sich Reichert zu seinem Auftrag. So hätte er die Aufgabe gehabt, 20 junge Männer um sich zu scharen, sie in nationalsozialistischem Gedankengut auszubilden und sie dann bei den Republikanern einzuschleusen.

Besonders hervor hob sich der V-Mann bei einem der größten Neonazi-Aufmärsche im Jahr 1995. Dort organisierte Reichert eine Busfahrt nach Luxemburg, wo ein Marsch anläßlich des Todestags von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß stattfand. Als Plattform diente Reichert die Karlsruher Kameradschaft. Dort scharte er überwiegend Jugendliche um sich. Sein Ziel war es, eine nationale Wohngemeinschaft und ein nationalsozialistisches Schulungszentrum aufzubauen. Besonders brisant war eine andere Aktivität: Reichert forderte seine Kameraden auf, eine ÁAnti-Antifa" zu gründen. Von potentiellen Gegnern sollten Fotos erstellt und die Adressen gesammelt werden. Ziel war eine effektive Bekämpfung von Linken.

Diese Aktivitäten sind von ihrer strafrechtlichen Konsequenz Reichert schwer nachzuweisen. Zum Verhängnis kann dem Kriminalbeamten jetzt allerdings eine Rede (siehe Dokumentation) werden, die er vor der von ihm maßgeblich mit ins Leben gerufenen "Karlsruher Kameradschaft" hielt. Reichert vergaß nach seinem Vortrag das Redemanuskript. Ein Teilnehmer nahm es an sich und spielte es nach Reicherts Enttarnung den Medien, Parteien und einigen Behörden zu.

In der Rede sind Passagen enthalten, die strafrechtlich von Bedeutung sein können. Reichert verfaßte den Text nicht selbst. Vielmehr soll er Unterstützung von Beamten des Landeskriminalamtes erhalten haben. Inzwischen hat sich die zuständige Staatsanwaltschaft in Karlsruhe eingeschaltet; unter dem Aktenzeichen 57 JS 1007/96 ermittelt sie gegen Reichert. Die Behörden versuchen die Vorgänge unter den Teppich zu kehren. Auf eine parlamentarische Anfrage der Republikaner-Fraktion erklärte das SPD-geführte Innenministerium, ihm seien die Ermittlungsakten nicht zugänglich. Nachdem der Fall nun allerdings große Publizität erlangt hat, ist eine weitere Vertuschung kaum mehr möglich.

"Seit dem Fall Axel Reichert steht aufgrund staatlicher Ermittlungen fest, daß Neonazi-Aktivitäten in Baden-Württemberg von staatlichen Organen initiiert werden", erklärte Rolf Schlierer, Fraktionschef der Republikaner im Stuttgarter Landtag. Der Präsident des Verfassungsschutzes, Rannacher, müsse sich fragen lassen, so Schlierer, wieviele agents provocateurs aus seinem Amt an derlei Aktivitäten beteiligt seien. Bis heute könne kein einziger Kontakt von Parteimitgliedern zur sogenannten Neonazi-Szene – mit Ausnahme zum Kriminalbeamten Reichert – nachgewiesen werden, erklärte Schlierer. "Ich fordere Herrn Rannacher auf, entweder Roß und Reiter zu nennen oder zu schweigen." Die Republikaner forderten den VS-Chef außerdem auf, die verfassungsfeindlichen Aktivitäten seiner Behörde offenzulegen.

Tatsächlich sind die Vorgänge in Baden-Württemberg skandalös. Ein Kriminalbeamter gründet zuerst eine rechtsextreme Vereinigung, die dann von den staatlichen Stellen wieder bekämpft wird. Genauso verwerflich sind die Versuche, Neonazis bei den Republikanern einzuschleusen. Hier zeigt sich abermals, daß der Verfassungsschutz inzwischen zu einem parteipolitischen Instrument verkommen ist, mit dem ein Kampf gegen Andersdenkende und nonkonforme Gruppen erfolgt.

In einem dpa-Gespräch äußerte sich Verfassungsschutzpräsident Helmut Rannacher über Neonazi-Aktivitäten zum zehnten Todestag von Rudolf Heß: "Die Motivation der Neonazis ist durch das Jubiläum des Todestages und den Aufmarsch vor einem Jahr besonders hoch. Die Szene wertet es als Riesenerfolg, daß sie sich in Worms trotz des Verbots versammeln konnte."

Hier zeigt sich die Scheinheiligkeit der Behörde. 1995 organisierte Axel Reichert den Aufmarsch zum Heß-Todestag in Luxemburg. Der Verfassungsschutz organisierte die Veranstaltung, die er im Anschluß bekämpfte. In der Presse feierten die Staatsschützer damals ihren Erfolg. Angeblich, so der Tenor, hätten sie einen Aufmarsch in Deutschland verhindert.


 
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