© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Landwirtschaft: Die Abwertung des Bauerntums bedroht ein soziales Gefüge
Der Bauer als Landpfleger
von Kai Guleikoff

Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 verringerte sich die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe von 1,6 Millionen auf 582.000 im Jahr 1992. In diesem Zeitraum sank die Anzahl der Familienarbeitskräfte von 4,7 Millionen auf 1,6 Millionen. Dieser dramatische Schrumpfungsprozeß hält weiter an. Fachleute gehen davon aus, daß ein Viertel aller Landwirtschaftsbetriebe das Jahr 2000 nicht mehr erleben werden.

In Mitteldeutschland sieht es nicht besser aus: Im Jahr 1989 arbeiteten in der DDR 742.000 Beschäftigte in der Landwirtschaft, im Jahr 1995 in den nun neuen Bundesländern lediglich noch 160.000. Obwohl die Landwirtschaftspolitik in West- und Mitteldeutschland seit 1949 mehr und mehr unterschiedliche Wege beschritt und daher nur in Kriterien mittelbar vergleichbar ist, zeigen beide Ergebnisse die Schwächung des Bauernstandes in Deutschland.

Die Gegenwart wird von einer Strukturkrise bestimmt, wie sie ähnlich bereits in den Zeitabschnitten der Jahre 1875 bis 1900 und 1929 bis 1932 die deutsche Landwirtschaft heimsuchte. Der einmal als "Urstand der Wirtschaft" geachtete Bauernstand wird heute einem mißverstandenem technischen Fortschritt geopfert.

Die Aufgabe einer eigenständigen Förderung der Bauern und Landwirte bedroht ernsthaft ein über Jahrhunderte gewachsenes soziales Gefüge. Richtig ist die Feststellung, daß sich die Beurteilung des Bauerntums mit der geschichtlichen Entwicklung verändert. So sahen Thomas von Aquino und Martin Luther den Bauern als Teil der göttlichen Gesamtordnung. Dieser Stellenwert gewinnt gerade heute wieder eine besondere Neubewertung. Der Bauer ist nicht nur Betreiber einer Veredlungswirtschaft, sondern gleichzeitig Kulturträger seines Volkes. In der bäuerlichen Familie wächst die Jugend zu früher Verantwortung heran, erfährt den Wert der Lebenserfahrung des Älteren. Der Kreislauf von Werden und Vergehen, Geburt und Tod, das Wechselspiel des Menschen mit der Natur werden körperlich erlebt. Die bäuerliche Dorfgemeinschaft, die in der Agrarverfassung der Germanen ihren Ursprung hat und sich dann im Hochmittelalter stark ausprägte, pflegt bis heute soziale Selbstverständlichkeiten, wie die Pflege von Kranken, Alten und Schwachen. Widrigkeiten der Natur werden gemeinschaftlich abgewehrt und in ihren Folgen lastenteilig getragen.

Aktuelles Beispiel dafür ist das zum Jahrhunderthochwasser deklarierte Naturereignis im Stromgebiet der Oder. Mehr als 20.000 Menschen vorwiegend bäuerlicher Herkunft in Brandenburg sind davon betroffen. Die traditionelle Hilfeleistung funktioniert, 80 Prozent der bereits etwa 9.000 Evakuierten haben in der Nachbarschaft bei Verwandten und Freunden eine zeitweilige Bleibe gefunden. Der sonst durch Politiker gescholtene Begriff der Nation wird jetzt ungeniert "strapaziert" und als Motor einer kollektiven Kraftanstrengung beschworen.

Das Oder-Hochwasser muß als Menetekel gesehen werden, sich als Mensch nicht über die Natur zu stellen. Im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus wurde Ödland urbar gemacht. Heute werden hohe Prämien gezahlt für die Stillegung dieser Flächen. Eine Nachnutzung dieses Kulturbodens geschieht oft nicht. Die pathetisch formulierte "Rückgabe an die Natur" endet oft mit der Erschließung als Bauland und der Verhökerung als Spekulationsobjekt.

Wie ist dieser unerträgliche Zustand zu beenden? Deutsche Agrarpolitik muß wieder Bauernpolitik werden. Von der Raumordnung her hat die Landwirtschaft immer noch einen beachtlichen Stellenwert. Im Freistaat Sachsen sind 70 Prozent der Landesfläche dem ländlichen Raum zugeordnet. In ihm leben die Hälfte aller Sachsen, um nur ein Beispiel zu nennen. Der Geldwert bäuerlicher Arbeit muß zeitgemäß angepaßt werden. Das Durchschnittseinkommen einer Familienarbeitskraft betrug 1993 gerade einmal 2492 DM im Monat und rangierte damit an letzter Stelle bei den qualifizierten Tätigkeiten. Angesichts des Zwanges zur hohen Kreditaufnahme, um infolge des Marktdruckes konkurrenzfähig zu bleiben, wird der Überlebenskampf in seiner Härte auf Dauer unzumutbar. Technik soll Arbeitskraft ersetzen und damit die Selbstkosten senken.

Auf einen Tierhalter kommen in Deutschland bereits 46 Rinder oder 90 Schweine. Der Ertrag an Weizen stieg in den letzten 40 Jahren pro Flächeneinheit um das 2,5fache an. Im Jahr 1956 versorgte ein Bauer 5 Bürger, 1996 bereits 60. Die Schattenseiten dieser Entwicklung sind in der Entfremdung von Tierhalter und Tier zu sehen. Tiere sind individuell und benötigen Zuwendung. Fehlt diese, wird das Tier überempfindlich und öfter krank. Die Ertragssteigerung bei Pflanzen wird mit Kunstdünger und chemischen Mitteln erzwungen. Eine gewaltige Lobby der Landtechnik und Chemie verdient an dieser Entwicklung Milliarden. Die bäuerliche Familie konnte in der Regel bis in die 60er Jahre Angestellte bezahlen. Später blieb sie bis heute auf sich allein gestellt.

Das Existenzproblem der Bauern hängt von der Preisgestaltung auf dem Markt ab. Lediglich 14 Prozent des Haushaltseinkommens gibt der Deutsche für Ernährung aus. Der Bauer muß oft unter Gewinn verkaufen. Um den Bauern nicht unter das Existenzminimum zu drücken, stellen Staat und EU Subventionen zur Verfügung. Etwa ein Drittel ihres Einkommens beziehen die Bauern bereits aus der EU; geplant sind schon bis zu zwei Drittel. Das Ansehen des Bauernstandes wird dadurch bewußt in der Gesellschaft verzerrt.

Diese Subventionen wären zumindestens in dieser Höhe nicht notwendig, wenn dem Bauern die Gesamtheit seiner auch immateriellen Leistungen vergütet werden würden. Diese Leistungen werden im Grunde bereits seit Jahrhunderten erbracht, erlangen aber heute angesichts einer von Menschenhand verwundeten Natur wieder eine besondere Bedeutung.

Der Bauer des 21. Jahrhunderts wird ein wichtiger Dienstleister sein, um das Klima stabilisieren zu helfen. Wald- und Wiesenflächen werden zunehmen müssen, um den Wasserkreislauf wieder "natürlicher" werden zu lassen. Der Bauer wird auch zunehmender Produzent nachwachsender Rohstoffe sein, denn die ererbten Bodenrohstoffe erschöpfen sich zunehmend. Trotzdem bleibt der Boden ein Organismus, der vor Verwüstungen durch Monokulturen bewahrt werden muß. Der Bauer ist hier als Spezialist mehr denn je gefordert.

Eine alte Weisheit besagt: Hat der Bauer kein Geld, hat kein Geld die ganze Welt. Auch wenn es anachronistisch klingen sollte, der Stellenwert des deutschen Bauern im 19. Jahrhundert sollte in modifizierter Form wieder erreicht werden. Damals engagierten sich Kirche und Staat deutlich. Das bäuerliche Leben wurde abhängig von den Traditionen der Landesteile Wertmaßstab. Kein anderer Beruf ist enger mit dem menschlichen Dasein verbunden als der des Bauern.


 
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