© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/97  15. August 1997

 
 
Vor 40 Jahren: Der Literaturprofessor Alfred Kantorowicz ging gen Westen
Neostalinistische Rollback

von Thorsten Hinz

Im Sommer 1957 wurden die von DDR-Intellektuellen nach Chruschtschows Distanzierung von Stalin gehegten Hoffnungen auf ein "Tauwetter" endgültig zerschlagen. Dem Hardliner Walter Ulbricht war seit dem Ungarn-Aufstand und der Suez-Krise im Herbst 1956 durch Verhaftungen, Schauprozesse und Maßregelungen ein gnadenloses neostalinistisches Rollback gelungen.

Zu den "Reformern" zählten etwa die Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz und Hans Mayer, Lehrstuhlinhaber in Berlin beziehungsweise Leipzig, der Philosoph Wolfgang Harich und der Chef des Aufbau-Verlags, Walter Janka. Mayer hatte am 28. November 1956 eine Rundfunkrede halten wollen, die am Beispiel der provinziellen DDR-Literatur mit dem geistigen Muff hart ins Gericht ging. Sie durfte nicht mehr gesendet werden, wurde aber in der Zeitung Sonntag abgedruckt. Kurz darauf wurde der Redakteur Gustav Just für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Auf dem 32. Plenum des Zentralkomitees der SED vom 10. bis 12. Juli 1957 erfolgten scharfe Angriffe gegen den "aus allen Knopflöchern schießenden sogenannten Liberalismus". Der Partei-Barde Kurt Barthel (Kuba) sagte mit Blick auf Mayer und Kantorowicz: " Es wäre an der Zeit, daß neben den älteren Wissenschaftlern junge Literaturwissenschaftler in die Lehrstühle aufrücken und sich also für den Lehrerberuf vorbereiteten."

Am 22. August flüchtete Kantorowicz (1899-1979) in den Westteil Berlins. Die Entscheidung fiel dem desillusionierten Kommunisten, Juden und Emigranten schwer, zumal sein wissenschaftliches Werk viel weniger bedeutend war als das von Hans Mayer, der 1963 in den Westen kam. Sein Nachruhm gründet sich auf seine Tagebücher, insbesondere auf das zweibändige "Deutsche Tagebuch", das mit der Flucht aus der DDR endet und bis heute als unerschöpflicher Zitatenfundus über die Politiker und Künstler der DDR dient.

Das Echo auf die Flucht war stark. Am 23. August titelte die Welt: "Professor Kantorowicz nach Westberlin", persönliche Erklärungen und Kommentare füllten die Spalten: Die Flucht belege "symptomatisch", daß linker Idealismus und Ulbricht unvereinbar seien.

Am 24. August kreischte das Neue Deutschland: "Kantorowicz zum Feind übergelaufen". Die SED-Führung fühlte sich um so mehr getroffen, weil Kantorowicz genau jene antifaschistische Reputation verkörperte, aus der die DDR sich legitimierte. Die Führung beschloß daher, ihm seine moralische Autorität durch frühere Schicksalsgefährten absprechen zu lassen. Am 25. August erschien im Neuen Deutschland eine unter anderen von Anna Seghers, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Stephan Hermlin - wie Kantorowicz alle "Westemigranten" - abgezeichnete Erklärung, die schloß: "Seinen eigenen Fall vorwegnehmend, schrieb er 1949 über seinesgleichen: "Wir dürfen zufrieden sein. Je mehr von der Sorte wir loswerden, desto besser für unsÊÉ Es wird sauberer bei uns.""

Wenigstens im Fall von Anna Seghers (1900-1983) ist erwiesen, daß die Unterschrift manipuliert war. Sie war mit Kantorowicz seit Jahrzehnten bekannt; beide waren im französischen Exil und hatten 1941 gemeinsam die rettende Überfahrt von Marseille nach Amerika angetreten. Dieser "Nachruf" mit ihrer Unterschrift mußte für Kantorowicz eine tödliche Kränkung bedeuten und erklärt vielleicht die Passagen in seinem "Deutschen Tagebuch", in denen er seine "persönliche Abneigung gegen die herzenskalte Seghers" bekundet. Die Forschung hat für die Tagebücher emigrierter Kommunisten festgestellt, daß sie "vom Ende her und auf das Ende hin, den Bruch hin É erzählen" (H. Kuhn), so daß sich - mit den Worten von Kantorowicz" einstigem Uni-Assistenten Hermann Kant - tatsächlich die Frage aufdrängt, inwieweit er "sein eigener Kujau gewesen" sei.

Ein im SED-Archiv abgelegtes, für den Kulturfunktionär Alfred Kurella bestimmtes Dokument der DDR-Botschaft in Prag mit Datum des 28. August 1957 zur "Einholung der Unterschrift der Genn. Seghers zur Erklärung gegen Kantorowicz" belegt, daß Seghers weder ihre Unterschrift gegeben noch an der Formulierung an der Erklärung mitgewirkt hatte. Sie machte Urlaub in der Slowakei. Die Botschaft wurde von Kurellas Büro telegrafisch beauftragt, einen Emissär zu ihr zu schicken und eine Blankounterschrift einzuholen. Der Diplomat traf dort am Morgen des 25. August ein. Er berichtet ausführlich, wie die weltberühmte Autorin in beklemmenden Wendungen und Windungen versuchte, loyal zur SED zu sein und gleichzeitig auf Selbstbestimmung zu pochen. "Als ich der Genn. Seghers den Sachverhalt erklärte, war sie sehr überrascht und nahm sofort gegen Kantorowicz Stellung É Sie (machte) mehrere Einwendungen gegen eine Unterzeichnung mit ihrem Namen. Diese Einwände bestanden inhaltlich É aus folgendem: 1. Ich unterschreibe nicht gern etwas, was ich nicht gelesen habe. 2. Form und Inhalt einer solchen Erklärung müssen, wenn ich unterzeichne, einwandfrei und von mir selbst mitverfaßt sein. 3. Wenn einer der im Telegramm genannten Schriftsteller genannten Schriftsteller nicht unterschreibt, unterschreibe ich auch nicht. 4. Die Erklärung muß so aussehen, daß man sich den K. nicht auf Lebenszeit zum Todfeind macht. 5. In Berlin werden solche Erklärungen manchmal von irgendwelchen Leuten gemacht, die das nicht verstehen, und manchmal werden dann Unterschriften von Leuten darunter gesetzt, die davon gar nichts wissen. 6. Ich will lieber selbst etwas darüber schreiben, wenn ich wieder in Berlin binÉ". Sie teilte dem Diplomaten mit, nur dann eine Erklärung zu unterstützen, wenn die genannten Schriftsteller die Erklärung selbst redigieren und unterschreiben. Sie übte "ironische Kritik" an Kubas Vortrag auf dem 32. ZK-Plenum und fragte, "wo Mayer sei". Ihr Fazit in den Worten des Emissärs: "Es gäbe bei uns zu viele Fehler in der Behandlung der Intelligenz." Schließlich sagte sie: Sie wolle nicht unterschreiben, sondern sich erst den Text beschaffen. "Da ich mit Genn. Seghers den ganzen Tag verbrachte, konnte ich bemerken, daß sie in dieser Angelegenheit sehr unentschlossen und schwankend war, obwohl sie über die feindliche Haltung des K. genau informiert war, da ich ihr einen Auschnitt aus "Die Welt" vom 22. 8. (richtig: 23. 8. -Th. H.) übergab."

Doch die Erklärung im Neuen Deutschland war schon samt ihrer Unterschrift erschienen. "Da das Einverständnis d. Genn. S. am Sonntag noch nicht vorliegen konnte, wird sie das sicher sehr übel vermerken", schließt der Bericht. Ein öffentliches Dementi wagte Anna Seghers aber nicht.

Fremdbestimmt blieben beide. Die späteren Publikationen des auch im Westen mißtrauisch beäugten Kantorowicz sind nicht zuletzt unter dem Aspekt zu sehen, daß sie ihm sein Entree in den westlichen Kulturbetrieb verschaffen mußten. Die Seghers blieb bis zuletzt in der Zwitterstellung zwischen geehrter, auch privilegierter Schriftstellerin und Renommierfigur in Parteieigentum. Als sie 1978 hochbetagt ins Regierungskrankenhaus eingeliefert wurde, landeten die Berichte über Lungenentzündungen, Verkalkungen, Knochenbrüche, geistige Verwirrungszustände umgehend auf Honeckers Schreibtisch. Noch Ende 1980 einigten Honecker und sein Ideogie-Chef Kurt Hager sich darauf, über den DDR-PEN und zum Ruhme des Staates zu versuchen, für die schon pflegebedürftige Seghers den Nobelpreis für Literatur zu erlangen.


 
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