© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/97  15. August 1997

 
 
Rudolf Heß: Spekulation um Todesursache hält am 10. Jahrestag an
Seltsame Umstände
Wolf Rüdiger Heß

Am 17. August 1997 jährt sich zum zehnten Mal der Todestag von Rudolf Heß. Dies gibt Anlaß, die seltsamen Umstände seines Todes im alliierten Militärgefängnis von Berlin-Spandau aus heutiger Sicht und Kenntnis zu rekapitulieren.

Nach vielen widersprüchlichen, von den vier Siegermächten veröffentlichten Darstellungen wurde schließlich die folgende gewählt: der 93jährige frühere Reichsminister (ohne Geschäftsbereich") und Hitler-Stellvertreter habe sich mit einem Verlängerungskabel aus seiner Gartenhütte an einem Fensterriegel aufgehängt. Nachdem die Version des Selbstmords erstmals am 19. August 1987 angeklungen war, beschloß die Familie, eine Zweitobduktion in München von dem bekannten und angesehenen Rechtsmediziner Professor Wolfgang Spann durchführen zu lassen. Er kommt in seinem Gutachten zu folgendem Ergebnis:

"Abschließend sind wir der Meinung, daß die in der Sterbeurkunde niedergelegte Todesdiagnose (Der britische Obduzent Professor Cameron hatte sie wie folgt formuliert: Ersticken durch Zusammendrücken des Halses durch Erhängen) keinesfalls gesichert ist. Obwohl wir mit Erstickung durch Zusammendrücken des Halses als Todesursache übereinstimmen, halten wir ein Erhängen als Todesursache für nicht bewiesen. Unsere Befunde sprechen vielmehr dafür, daß der Tod infolge Erdrosselns eingetreten ist."

An anderer Stelle in seinem Gutachten führt Spann aus: "Prof. Cameron [scheint] versäumt zu haben, auch die andere Art der Strangulation, nämlich Erdrosseln, in Erwägung zu ziehen. Erdrosseln bedeutet definitionsgemäß Strangulation mit einer um den Hals gelegten Vorrichtung und aktives Zusammenziehen durch eine andere Person oder in sehr seltenen Fällen durch das Opfer selbst, während das durch das Strangulationswerkzeug bewirkte Zusammendrücken beim Erhängen passiv durch das eigene Körpergewicht des Opfers oder eines Teils von diesem herbeigeführt wird. Für diese Unterscheidung wäre eine Untersuchung des Verlaufs der Strangfurche notwendig gewesen. Auf den genauen Verlauf der Zeichnung wird im Bericht von Prof. Cameron nicht eingegangen. Im [weiteren] (…) heißt es lediglich: ’Eine feine lineare Zeichnung von ca. 7,5 cm Länge und 0,75 cm Breite wurde quer über die linke Seite des Halses verlaufend bemerkt, die mehr zutage trat, als die Leiche mit UV-Licht in Augenschein genommen wurde’.

Hier wird weder der Verlauf der Strangmarke am Hals, so wie wir sie beschrieben haben, noch ihr Verlauf an der Kehle oder ihre Position in bezug auf den hervortretenden Kehlkopf beschrieben und beurteilt. Wie jeder erfahrene Gerichtsmediziner weiß, werden einige durch Gewalteinwirkung herbeigeführte Hautveränderungen deutlicher sichtbar, je mehr Zeit nach dem Tod vergangen ist (…), während in diesem Fall die Strangzeichnung – wie unsere Fotos belegen – auf Rotfärbung, d. h. Blutverdrängung oder – anders ausgedrückt – Blutung zurückzuführen ist. Die Strangmarken am Hals von Rudolf Heß müssen deshalb bereits anläßlich der Autopsie von Prof. Cameron deutlich sichtbar gewesen sein."

Diese Äußerung von Professor Spann ist insofern von Bedeutung, als die Engländer versuchten, die Nichterwähnung der verräterischen Strangmarke – sie verläuft im Rücken des Halses absolut horizontal – zu relativieren, indem sie behaupteten, daß sie zum Zeitpunkt der Obduktion durch Prof. Cameron noch nicht sichtbar gewesen sei.

Für Rechtsanwalt Alfred Seidl, den ehemaligen bayerischen Innenminister, war die eindeutige Aussage von Prof. Spann Grund genug, bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Verdacht auf Mord anzustrengen. Dieses Verfahren wurde nach vielem Hin und Her als nicht begründet zurückgewiesen, wogegen Seidl zunächst Beschwerde beim Berliner Kammergericht einlegte und nach Ablehnung durch dieses beim Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter haben mit ihrer letztinstanzlichen Entscheidung im November 1993 diese Beschwerde nicht einmal zur Prüfung angenommen.

Mit der Ablehnung durch das Bundesverfassungsgericht waren die juristischen Möglichkeiten einer Überprüfung der Todesumstände in der Bundesrepublik Deutschland beendet. Nach Besprechungen mit englischen Anwälten wurde im April 1995 entschieden, den britischen Standesbeamten, der die Sterbeurkunde ausgestellt hatte, aufzufordern, die oben erwähnte Angabe der Todesursache abzuändern in "Ersticken durch Zusammendrücken des Halses durch Erdrosseln".

Im August 1995 erging nach mehrfachen Anmahnungen die Antwort der zuständigen Behörde, die lakonisch mitteilte, man habe die Angelegenheit geprüft. Der britische Standesbeamte sei gar nicht berechtigt gewesen, die Sterbeurkunde auszustellen: "Die Ausstellung der Sterbeurkunde wurde deswegen irrtümlich vorgenommen und die Eintragung daher gestrichen." Mit anderen Worten: es existiert keine offizielle Beurkundung des Todes – mithin auch der Todesursache – von Rudolf Heß!

Ein englischer Bekannter unserer Familie hatte zuvor schon Scotland Yard eingeschaltet. Der dortige Chief Super Intendant Howard Jones wurde mit einer Untersuchung beauftragt. Gemäß englischen Presseberichten kam Jones zum Ergebnis, daß eine "full scale murder investigation" angezeigt sei. Der zuständige Generalstaatsanwalt Alan Green befand jedoch, daß keine ausreichenden Gründe für derartige Ermittlungen vorlägen.

Zu einem häufig erwähnten sogenannten Abschiedsbrief ist anzumerken, daß er ganz offensichtlich von meinem Vater geschrieben wurde, jedoch aufgrund des Inhalts nicht aus dem Jahr 1987 stammen kann, sondern auf einen wesentlich früheren Zeitpunkt datiert werden muß. Dies geht unter anderem daraus hervor, daß er Sachen ansprach, die ihm früher wichtig gewesen waren. Es fehlten jedoch völlig Bezüge zu Dingen – wie zum Beispiel den Enkelkindern –, die ihm in seinen letzten Jahren sehr am Herzen lagen. Etwa drei Viertel dieses Briefes behandeln seine Privatsekretärin Fräulein Fath mit dem Hinweis, er hätte sie so gern wiedergesehen und der Bemerkung: Ich bekam ja Bilder von ihr wie von Euch allen." Diese Äußerung ist allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt richtig, bis wir Besuch machten (der erste fand am Heiligen Abend 1969 statt). Danach nicht mehr. Somit läßt sich das Datum des Briefes ziemlich exakt bestimmen, nämlich auf November 1969, als der Schwerkranke mit einem durchgebrochenen Geschwür im Zwölffingerdarm "auf des Messers Schneide zwischen Leben und Tod stehend" in das britische Militärhospital verlegt wurde.

Die Familie ist der Auffassung, daß die Alliierten den Brief damals zurückgehalten haben, insbesondere, weil er den ’schönen Satz’ enthält: "Geschrieben wenige Minuten vor meinem Tod." Man war damals der Ansicht, man könne ihn später vielleicht einmal gebrauchen. Dieser Zeitpunkt war gekommen, als man im August 1987 einen Selbstmord vortäuschen mußte. Der sogenannte Abschiedsbrief wurde deswegen mit irgendwelchen modernen Methoden auf die Rückseite eines Briefes der Schwiegertochter vom 20. Juli 1987 übertragen, um ihn so zeitlich einzuordnen.

Die geschilderten (und zahlreiche weitere) Umstände lassen begründete Zweifel an der Selbstmord-Version aufkommen. Es spricht nahezu alles für Mord. Eine genaue Überprüfung des Falles scheitert jedoch am vorauseilenden Gehorsam der Bundesdeutschen Justiz gegenüber den ehemaligen Siegern – unseren jetzigen Verbündeten.

Auch das Motiv für einen Mord liegt klar auf der Hand: im Frühjahr 1987 mehrten sich die Anzeichen, daß die Sowjetunion unter Gorbatschow bereit war, ihr langjähriges Veto gegen die Freilassung aufzugeben. Nachdem die drei westlichen Gewahrsamsmächte stets ihre Bereitschaft betont hatten, Rudolf Heß aus humanitären Gründen auf freien Fuß zu setzen, stand seiner Freilassung mit dem Wegfall des sowjetischen Vetos nichts mehr im Wege. Genau dies aber fürchtete man in London, wo man Akten über Rudolf Heß, seinen Flug und seine Gespräche in England im Jahre 1941 bis zum Jahr 2017 (=75 Jahre nach 1942; Interpretation des Verf., Anm. d. Red.) sperrt. Der Kronzeuge war im Begriff, offen sprechen zu können.


 
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