© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Rechtschreibreform: Probleme für Lehrende und Lernende
Vorwärts ins Dilemma

von Erich Glück

In Teilen Deutschlands gilt die von Bildungsminister Jürgen Rüttgers als "in den Brunnen gefallenes Kind" apostrophierte Rechtschreibreform als gescheitert. Die Gerichtsbeschlüsse von Hessen und Niedersachsen haben der Anwendung des umstrittenen orthographischen Neudeutsch einen legistischen Riegel vorgeschoben. Andere Regionen werden diesem Beispiel folgen, auch wenn im Norden das Oberverwaltungsgericht in Schleswig-Holstein vorerst einen Stopp der Reform abgelehnt hat. In Österreich soll das sonderbare Regelwerk im demnächst beginnenden Schuljahr "behutsam", wie es die Schulbehörde formuliert, eingeführt werden. Das Dilemma für Lehrende und Lernende ist vorgezeichnet. Schülerinnen und Schüler werden ab sofort im gemächlichen "Schritttempo" (sic!) die "Stofffülle" (sic!) der keineswegs weisen neuen Schreibweise "eingebläut" (sic!) bekommen. Mit dem notwendigen "Quäntchen" (sic!) an Nachsicht wird die Lehrkraft die alte Orthografie (sic!) wohl rot anstreichen, jedoch nicht als Fehler werten, wie die fragwürdige Verordnung erst in sieben Jahren in Kraft treten wird. Zudem werden die ABC-Schützen von heute auch morgen mit Texten konfrontiert werden, die von den Autoren längst in der Originalform der bisher gültigen Rechtschreibung gesetzlich geschützt worden sind. Heillose Verwirrung in den Klassenzimmern ist garantiert.

Logik und Weitsicht waren in der mittlerweile bereits 35 Jahre lang von einer gescheiterten zur nächsten vertrackten Reform stolpernden Schulpolitik noch nie die Brennpunkte der österreichischen Bildungsellipse. Deutschland hat im Sommer der Hochwasserkatastrophen auch gegen die Schwemme von kleingeistiger Unvernunft aufgepfropften Neuschreib-Absurditäten wenigstens regional bereits wirkunsvolle Maßnahmen gesetzt. In Österreich ist die hartnäckige Frühjahrsmüdigkeit der behördlich zahnlosen Zustimmung zur neuen Rechtschreibung nahtlos der sommerlichen Siesta gewichen. Im Gegensatz zur in der heimatlichen Bodenseeregion auf feriale Tauchstation gegangenen Unterrichtsministerin, haben Wiens Stadtschulratspräsident Kurt Scholz (SP) und sein Salzburger Kollege Gerhard Schäffer (VP) auf die gerichtlichen Schritte von Wiesbaden und Hannover, sowie auf die von der Schülerin Birgit Parade beim österreichischen Verfassungsgerichtshof eingebrachte Individualbeschwerde gegen die Rechtschreibreform reagiert. Der Wiener Oberpädagoge von parteipolitischen Gnaden, pseudo-populistischer Ideenbringer der Leistungsbeurteilung von Lehrern durch Schüler, und der vermeintlichen Einfachheit halber Förderer der Kleinschreibung, meldete sich als Befürworter der Beibehaltung alter Schreibformen typisch österreichischer Eigenart aus dem Sommerloch des Schweigens in den Dienstalltag der Worthülsen zurück. Schäffer, der dem Großteil der von Deutschlands Finanzminister Theo Waigel ungeschminkt als "Schmarrn" bezeichneten Reform nichts abgewinnen kann, kapituliert mit einem mutlosen "für eine Umkehr ist’s schon zu spät", statt zumindest bezüglich Schadensbegrenzung die Ärmel hochzukrempeln. Einfluß hätte der frühere Sport-Staatssekretär genug. Ein Sieg der Vernunft kommt immer früh genug!

Es geht hier nicht um die ohnehin bereits ad nauseam strapazierten vokabularischen Unterschiede von Karfiol und Topfen auf den österreichischen Speisezetteln statt des "preußischen" Blumenkohls und Quarks. Sie sind noch keinem bitter aufgestoßen. Umso mehr aber das Ignorieren der gemeinsamen Hoch- und Verkehrssprache mit Deutschland, das schon lange vor Österreichs EU-Beitritt wichtigster Handels- und Wirtschaftspartner gewesen ist. Die beamtete rot-weiß-rote Alpenrepublik wird sich langfristig zu den deutschen Maßnahmen gegen die Rechtschreibreform auf dem Konsensweg etwas einfallen lassen müssen. Es ist generell armselig, daß immer wieder nur der bis zu den juristischen Winkelzügen der Verfassungsdienste reichende Paragraphen-dschungel für die Allgemeinheit kaum verständlicher Lesart über Sinn und Unsinn sprachlicher Reformen zu entscheiden hat. Die Vernunft wird einmal mehr stumm im Regen von unfreiwillig grotesken Verordnungen und Erlässen stehengelassen. Von dort gerät sie in die Traufe der neuen Sprach- und Verständnislosigkeit.


 
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