© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/97  29. August 1997

 
 
Liberaler Totalitarismus
von Frank Liebermann

as geistige Klima in Deutschland ist muffig. Nicht erst seit heute. Seit einigen Jahren hat sich eine politische Atmosphäre entwickelt, die es verhindert, die Dinge so beim Namen zu nennen, wie sie tatsächlich sind. Selbsternannte Inquisitoren geißeln unter dem Deckmantel der Toleranz jeden, der es wagt, gegen einen von oben verordneten und definierten Liberalismus zu verstoßen. Es ist eine Politik des Prangers, die jegliche nonkonforme geistige Regung zu ersticken versucht. Man muß sich nur einmal einige der medialen Hinrichtungen der letzten Monate vergegenwärtigen.

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) denunzierte den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, als Verfassungsfeind. Der Grund: Er hatte für eine Reform des Grundgesetzes, eine Änderung des Wahlrechts und die Verringerung der Zahl der Bundesländer plädiert. Ziel dieser Reformen, so Henkel, sollte eine handlungsfähigere Demokratie sein. Der SZ-Leitartikelschreiber Heribert Prantl bemühte daraufhin in einem Kommentar den Artikel 20 Absatz IV des Grundgesetzes, der festlegt, daß es den Bürgern erlaubt sei, auch gewaltsam "das Recht zum Widerstand" gegen Menschen anzuwenden, die das Grundgesetz beseitigen wollten.

Vor der Justiz mußte sich der Herausgeber der Staatsbriefe, Hans-Dietrich Sander, rechtfertigen. Der Journalist, so die Münchner Staatsanwaltschaft, habe in seiner Publikation Staatsbriefe den Holocaust leugnen lassen. In den zwei dazu herangezogenen Artikeln fand sich keinerlei Beleg für diesen Vorwurf, der aus dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht stammt.

Genauso übel erwischte es Peter Gauweiler. Nachdem er sich gegen die Wehrmachtsausstellung in München aussprach, mußte er sich im Flaggschiff des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, den Tagesthemen, als Rechtsextremist diffamieren lassen.

Diese Vorgänge geschahen innerhalb nur weniger Wochen. In jedem dieser Fälle fand eine beispiellose Denunziation und Verunglimpfung der Andersdenkenden statt. Mit Unterstellungen, Halbwahrheiten, manipulierten Zitaten und gezielten Fehlinterpretationen von Aussagen, rückten selbsternannte Tugendwächter seriöse Menschen in ein Zwielicht, aus dem sie sich oft kaum mehr befreien können. Wenn mehrere Breitseiten aus den sogenannten liberalen Medien bei den Betroffenen einschlagen, ist es vollkommen egal, ob die veröffentlichte Meinung wahr ist oder nicht. Der Medienkonsument ist in den meisten Fällen gar nicht in der Lage, das Behauptete selbst nachzuprüfen und ist dazu verurteilt, die Unterstellungen kritiklos zu übernehmen. Nicht selten müssen die Opfer dieser Denunziationen mit beruflichen Nachteilen und gesellschaftlicher Isolation rechnen. Wer will schon einen als "Rechtsextremisten" Denunzierten beschäftigen oder sich in der Öffentlichkeit mit einem solchen sehen lassen?

Gegenüber den Denunzierten gilt Gewalt als legitime Waffe. Karlheinz Weißmann wurden beispielsweise die Fenster eingeworfen und Bücher durch Farbbeutel zerstört. Ernst Nolte wurde nach einem Vortrag geschlagen, Alain de Benoist, Träger des in Frankreich hochangesehenen Prix Goncourt, wurde – in Deutschland – von wildgewordenen "Autonomen" verprügelt, die vermutlich nie etwas von ihm gelesen haben. Immer öfter wird gezielt Gewalt ausgeübt. Verwüstete Arbeitszimmer, brennende Autos und Druckereien oder Körperverletzungen werden als Heldentaten im Kampf gegen die "Gefahr aus der Mitte" gerühmt. Die Täter der solcher Übergriffe werden in der Regel nie gefaßt, geschweige denn verurteilt. Reaktionen in den Medien: in der Regel keine oder Verständnis für den "Widerstand" der Täter.

Unter dem Deckmantel von Liberalität und Meinungsfreiheit findet ein enormer Anpassungs- und Konformitätsdruck statt, der praktisch eine Vereinheitlichung des Meinungsspektrums und eine Verflachung der Argumentation zur Folge hat. Es kann nicht mehr alles gesagt werden, will man nicht seine Existenz ruinieren. Wer sich aus dem Konsens eines linken oder linksliberalen Erklärungsschemas herausbewegt, bekommt das sofort zu spüren. Die Mechanismen sind subtil. Es beginnt damit, daß "kritische Medien" einen Fehltritt entdecken, den sie für exemplarisch gefährlich halten und diesen mit einem drohenden Unterton kommentieren. Entschuldigt sich das potentielle Opfer artig und rechtzeitig und tut kund, daß es mißverstanden worden sei oder alles gar nicht so gemeint sei, dann kann es damit rechnen, daß alles schnell wieder vergessen wird.

Das beste Beispiel dafür war der frühere Bundesverteidigungsminister Hans Apel. Nachdem er den von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht initiierten Aufruf "Gegen das Vergessen", der sich gegen eine einseitige Bewertung des Kriegsendes als "Befreiung" aussprach, unterzeichnete, hagelte es massive Kritik auf den sozialdemokratischen Politiker. Erst nachdem er seine bereits geleistete Unterschrift zurückzog, endete das Mediengewitter so schnell, wie es aufgezogen war. Er wolle, so ließ Apel nun verlauten, nicht mit "Neuen Rechten" in einem Atemzug genannt werden. Er zeigte, daß er gelernt hatte. Die Distanzierung kam noch rechtzeitig. Nach einer gewissen Reuephase nahmen ihn die ehemaligen Kritiker wieder in den Kreis der "Guten" auf. Aber – und diesen Effekt wußte bereits Stalin zu nutzen – wer einmal öffentliche Selbstkritik geübt hatte, mußte auf der Hut sein. Passierte erneut ein "Fehler", dann wurden ihm auch die alten wieder vorgehalten. Und das konnte im Wiederholungsfalle schlimme Folgen haben.

Es geht also nicht nur darum, was gesagt wird, sondern auch, wer etwas sagt. Stigmatisierte Personen haben niemals recht, selbst wenn sie die Auffassung vertreten, zwei mal zwei sei vier. Weigert sich ein Gerügter, Abbitte zu leisten, folgt die nächste Stufe der Einschüchterung. Eine Vielzahl von Medien schließen sich dann der Hatz an. Eine Kampagne wird organisiert. So geschehen 1995 im Falle des Mannheimer Amtsrichters Rainer Orlet, der versucht hatte, wie dies seine Pflicht als Richter war, im Urteil gegen den damaligen NPD-Vorsitzenden Günter Deckert, sowohl be- als auch entlastende Tatsachen gegeneinander abzuwägen. Da half es auch nicht, daß der ehemalige Richter am Bundesverwaltungsgericht, Horst Sendler, die Absetzung des "Skandalrichters" (Spiegel) Orlet vehement verwarf und die "richterliche Unabhängigkeit als einer wesentlichen und unverzichtbaren Säule unseres Rechtsstaats" gefährdet sah. Die Konsequenz der auch von der Politik unerbittlich gegen Orlet geschürten Kampagne: Er mußte in den Ruhestand gehen und konnte noch froh sein, daß ihm nicht Schlimmeres widerfuhr.

Die Folgen eines solchen öffentlichen Meinungsdiktats sind weithin sichtbar. Eine selbstbewußte Minderheit diktiert der Mehrheit, was sie laut aussprechen darf und was nicht. Die politische Kultur leidet zunehmend an diesen Repressionen und erzeugt öde geistige Gleichschaltung. Die Streitkultur bleibt zwangsläufig dort auf der Strecke, wo die Voraussetzung für den Diskurs ist, daß das Gegenüber ungefähr der gleichen Meinung ist. Der liberale Grundtenor wird dort unglaubwürdig und totalitär, wo er nur noch das liberale Interpretationsmuster zuläßt und alle anderen unter den Verdacht des Faschismus stellt.

Werden so heikle Dinge wie Ausländerkriminalität angesprochen, schlägt der willfährige Gutmenschen-Journalismus Alarm. Obwohl die Zahlen der überproportionalen Delinquenz von Ausländern bei den meisten Delikten seit Jahren bekannt sind, wird flugs die Faschismuskeule geschwungen, Argumente werden diffamiert; in mehreren linksregierten Bundesländern existieren Regierungs-"Empfehlungen" für die Presse, nach denen so etwas wie Ausländerkriminalität schlicht nicht stattzufinden hat, indem man etwa die Nationalität der Täter, auch wenn sie der schnelleren Ergreifung der Täter dienen könnte, verschweigt – es sei denn, es handelte sich um deutsche Täter. Im Verdacht befinden sich sogar Täterbeschreibungen wie "dunkelhaarig".

Natürlich gibt es in Deutschland kein offizielles Verbot, gewisse Dinge beim Namen zu nennen, wird mancher sagen. Das ist aber nur bei oberflächlichem Hinsehen richtig, denn eine Auseinandersetzung findet nicht auf sachlicher, sondern auf persönlicher Ebene statt. Sachfragen sind nicht mehr Gegenstand der Suche nach der Lösung eines Problems, sondern werden zum Gegenstand des Moralisierens. Toleranz wird zum Besitz eines Kartells von Journalisten, Politikern, Kulturschaffenden und anderen Jakobinern, die meinen, allein entscheiden zu können, was und wer tolerant ist und wem man die Toleranz entziehen dürfe, da es ja bekanntlich "keine Toleranz gegenüber den Intoleranten" geben dürfe. Diejenigen, die von ihnen als intolerant erklärt werden, haben ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verwirkt. Da aber strafrechtliche Sanktionen in der Regel nicht möglich sind, wird versucht, den Gegner moralisch zu vernichten. Er wird zum Faschisten, zum Nazi, zur "Gefahr aus der Mitte". Es ist kein Wunder, daß diese sich selbst oft liberal nennende "wehrhafte" Pseudo-Liberalität häufig in der Nähe des Antifaschismus zu finden ist. Diese Art des Liberalismus ist jedoch nichts anderes als liberaler Totalitarismus.

Das Schlimmste an dieser Planierung des geistigen Lebens ist nicht nur der entstehende gesellschaftliche Konformismus, sondern der massenhafte Rückzug des Bürgers aus der politischen Sphäre, wie sie seit Jahren zu beobachten ist. Für viele Linke ist dies die Voraussetzung für ihre fortdauernde politische Herrschaft. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, daß die Menschen sich auf Dauer ihre Situation schönreden lassen. Unsere Gesellschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Nur eines ist sicher: Keines der Probleme wird gelöst, indem man diejenigen, die sie beim Namen nennen, verfolgt.


 
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