© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/97  29. August 1997

 
 
Pankraz, Napoleon und das Lächerliche an der Steuerreform
Kolumne von Günter Zehm

Übereinstimmung herrscht mittlerweile darüber, daß der Bonner Politikbetrieb mit seiner Steuerreform und ähnlichen "Lachnummern" nur noch lächerlich sei. Die Lächerlichkeit ist zur meistgebrauchten Vokabel sommerlicher Biergartengespräche und Grillpartys geworden, sofern es dabei um deutsche Politik geht. "Die machen sich lächerlich", sagen die einen. "Die machen uns alle in den Augen des Auslands lächerlich", sagen die anderen.

Aber was heißt denn "Lächerlichkeit"? Das Wort hat in allen Sprachen mit Lachen zu tun, doch gelacht wird selten oder wenig, wenn die Sprache auf Lächerlichkeiten kommt. Die lächerlichen Figuren in der Komödie, Tartuffe oder der eingebildete Kranke, lösen natürlich momentane Lacher aus, indes, es ist immer ein unfrohes, meist zorniges Lachen, untermischt mit Verlegenheit und Scham. "Die Lächerlichkeit tötet", verkündet lapidar das (französische) Sprichwort. Jedenfalls ist sie immer ungemütlich.

Weder auf der Bühne noch in der Politik merkt die lächerliche Figur, daß sie lächerlich ist bzw. Lächerlichkeiten begeht, und just darin besteht ihre Lächerlichkeit. Während die Zuschauer zornige Lacher ausstoßen oder sich schon verlegen abgewandt haben, glaubt die lächerliche Figur, daß sie gerade jetzt zu ihrer großen Form ausläuft, eine gloriose Intrige einfädelt, allen möglichen Silberstreifen am Horizont entgegenmarschiert. Prototyp ist der blinde Faust bei Goethe, der triumphierend dem Klirren der Spaten lauscht und annimmt, daß man seine machtvollen Dammbaupläne realisiert – wo doch die Lemuren in Wirklichkeit sein eigenes Grab schaufeln.

Immerhin ist beim Faust nur die letale Situation lächerlich, nicht die Person selbst. Beim eingebildeten Kranken verhält es sich fast umgekehrt: Die Situation ist an sich nicht lächerlich (denn wer krank ist, der muß Pillen nehmen und sich Klistiere machen lassen, damit er gesund wird), aber sie verzerrt ihr Gesicht unterm lächerlichen Wahn des "Kranken", der ja gar nicht krank ist, sondern sich das nur einbildet.

Wie sieht es mit der Bonner Steuerreform, der "Lachnummer" dieses Sommers aus? Folgt sie eher dem Modell Faust oder eher dem Modell eingebildeter Kranker? Nimmt man den eigentlichen Adressaten oder "Patienten" der Affäre: das von einem unübersichtlichen und rigorosen Steuersystem geplagte Volk, so müßte man wohl von einer ernsten, ja, todernsten Situation sprechen. Die Wahrheit ist freilich, daß sich das Volk in Sachen Steuern längst nicht mehr als Patient betrachtet, dem irgendein Doktor ehrlichen Herzens helfen will, daß es sich längst mit seiner Rolle als Milchkuh immer gierigerer Steuereinnehmer abgefunden hat. So kann es also von seinem unbequemen Holzplatz aus die Vorgänge auf der Bühne mit einiger Gelassenheit betrachten.

Und da gewahrt es dann ein voll entfaltetes Panorama der Lächerlichkeit, sowohl lächerliche Situationen als auch lächerliche Personen. Der Staat will Geld, will immer mehr Geld von seinen Untertanen, doch je mehr er abkassiert, umso mehr wird eingespart und rationalisiert und verschlankt, umso mehr Arbeitsplätze werden freigesetzt, umso schneller schwindet die Zahl der effektiven Steuerzahler und akkumuliert sich die Summe der Staatsausgaben. Der Staat müßte einmal und für eine ganze Weile auf größere Einnahmen verzichten, um später (vielleicht!) wieder happiger zugreifen zu können. Die Situation ist komisch und ärgerlich zugleich, eben lächerlich,

Aber das Mitleid der Zuschauer für die Bonner Akteure hält sich in engen Grenzen, erreicht bei weitem nicht die Mitleidsgrade, die wir für den alten Faust empfinden mögen. Denn diese Akteure sind ebenfalls lächerlich. Die schwitzende Hektik, mit der sie sich gegenseitig "blockieren" und der "Blockade" bezichtigen, die Sappen, die sie vortreiben, um dem Gegner Bomben oder wenigstens Stinkbomben unter den Hintern zu legen, die empörten Augenaufschläge, die sie "in den Medien" riskieren – all das entlarvt sie als reine Tartuffes, als Nicht-mal-eingebildete-Kranke, die die Einbildung nur spielen.

Das Publikum weiß genau, daß sie in Wirklichkeit gar nicht an Steuersenkung und Steuervereinfachung denken, sondern nur an den sogenannten "Wahlkampf". Kein einziger dieser Politiker sagt sich: "Ich setze mich jetzt eisern für das und das ein, auch wenn die Wahl dann wahrscheinlich verloren geht, denn dies ist richtig und dient dem Volke." Sondern jeder überlegt: "Mein Gott, wie kann ich nur dem andern das Scheitern und die ewige Wurstelei und die ewige Lähmung in die Schuhe schieben, damit nicht er, sondern ich gewählt werde."

Wie gesagt, das Publikum weiß genau, daß es sich so verhält, und die Akteure wissen, daß das Publikum es weiß. Insofern, was dieses allseitige Wissen betrifft, widerspricht die Konstellation dem oben über die Lächerlichkeit Gesagten. Handelt es sich vielleicht gar nicht um lächerliche, sondern um geradezu erhabene Vorgänge, nämlich um das regelgemäße Walten der Demokratie, wenn auch einer etwas überreifen, gewissermaßen matschig gewordenen, wo es nicht mehr um Sachentscheidungen, sondern nur noch um Machterhalt, Mandate und steuerfreie Diäten geht, wo überhaupt nicht mehr entschieden, sondern nur noch taktiert und finassiert und "Wahlkampf" gemacht wird?

Allerdings, schon Napoleon wußte (und diktierte es seinem Feldsekretär 1812 beim Rückzug aus dem brennenden Moskau): "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt". Das sollten ruhig auch einmal die Bonner Politiker und durchaus auch ihre Verächter bei den Grillpartys und in den Biergärten bedenken. Man kann alles übertreiben, auch das Erhabene, und dann sitzt man eines Tages unversehens in der Lächerlichkeit.


 
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