© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/97  05. September 1997

 
 
Wachstum ohne Wohlstand
von Klaus Zeitler

ber 2,5 Billionen Mark Staatsverschuldung mit dramatisch steigender Tendenz nach oben. Millionenexport von Arbeitsplätzen durch die Industrie, um im Rahmen einer angeblich unabdingbaren Globalisierung Lohnkosten und Steuern zu sparen sowie Millionen Ausländer am Tropf unserer Sozialkassen in Bund Ländern und Gemeinden. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Was ist aus Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" geworden? Entläßt die Marktwirtschaft ihre
Kinder?

Die Solidarpflicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie den Generationen zerfällt. Denn gleichzeitig wachsen die Einkünfte aus Unternehmertätigkeit, Spekulation und Vermögen. Die Aktienkurse explodieren, die Vorstände der Großkonzerne genehmigen sich Gehaltserhöhungen in einem bisher nicht vorstellbaren Maß.

Die Menschen mit Durchschnittseinkommen und täglichem Kaufkraft verlust erwarten hier den regulierenden Eingriff des Staates, der sich ja auch als Sozialstaat begreift. Ohne Aussicht auf Erfolg. Denn der durch Privatisierung und weltweite Globalisierung bewußt in Frage gestellte Nationalstaat ist überall auf dem Rückzug. Die Solidarität der Bürger untereinander schwindet auch deshalb, weil ein so entmachteter Staat keinen Interessenausgleich mehr in der Bevölkerung erzwingen kann. Die ganze Armseligkeit unseres Staatswesens wird darin deutlich, daß allein für Zinsen der öffentlichen Haushalte jährlich über 150 Milliarden Mark – jede vierte Steuermark – bereitgestellt werden muß. Wir alle leben so auf Pump – auf Kosten unserer Kinder und Enkel.

Weimarer Verhältnisse? Nicht ganz. Noch hält das soziale Netz, auch wenn die Maschen, durch die man fallen kann, immer weiter werden. Noch nie hat es in der Geschichte der Bundesrepublik einen so langen Rückgang der Massenkaufkraft gegeben wie heute. Nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist seit 1993 die Summe aus Nettolöhnen, Arbeitslosenentgeld, Sozialhilfe und Renten preisbedingt um 2,3 Prozent gefallen.

Möglicherweise steht uns das Schlimmste aber noch bevor. Im Unterschied zum ersten Teil unseres Jahrhunderts sind die Bürger nach einer erfolgreichen Phase der sozialen Marktwirtschaft über 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch bereit, wirkliche Einschnitte in scheinbar gesicherte soziale Besitzstände hinzunehmen. Das eigentliche Ärgernis ist für viele ja, daß die den herrschenden Parteien anzulastenden Ungerechtigkeiten durch staatliche Einsparungs- und Rationalisierungsmaßnahmen allein zu Lasten von "Otto-Normalverbraucher" gehen. Nicht mehr Wohlstand für alle, sondern für einige? Die Gewinnsteuerbelastung für Millionäre hat in Deutschland ein historisches Tief erreicht, soweit Gewinn hier überhaupt noch versteuert wird. Die Lohnsteuerquote für denjenigen, der sich durch Wohnungswechsel dem deutschen Fiskus nicht entziehen kann, hat demgegenüber eine Rekordmarke erreicht. 50 Prozent Steuer- und Sozialabgabenbelastung, zuzüglich gemeindlicher Abgaben sind für Durchschnittsverdiener in Deutschland keine Seltenheit – ein Spitzensteuersatz in der Welt!

In Westdeutschland sind die Unternehmergewinne zwischen 1980 und 1993 (neuere Zahlen liegen nicht vor) brutto um 185 Prozent, netto sogar um 250 Prozent gestiegen. Die Nettoarbeitseinkommen der Arbeitnehmer wuchsen demgegenüber im gleichen Zeitraum um 63 Prozent, im Durchschnitt nur um 52 Prozent. Zieht man die Inflationsrate im Zeitraum von 1980 bis 1995 ab, ergibt sich im Mittel in den Jahren der Regierung Kohl lediglich eine Steigerung von 0,2 Prozent pro Jahr. Auch wenn es die Befürworter von Verzicht und "Gürtel-enger-schnallen" für Durchschnittseinkommen nicht gerne hören – es ist wahr: Eine massive Lohnzurückhaltung der unteren Arbeitnehmergruppen seit nunmehr 15 Jahren ist unbestreitbar.

Die privaten Geldvermögen haben im Zusammenhang mit der Aktien-Hausse 1997 5 Billionen Mark überschritten. Rein rechnerisch hat damit jeder Privathaushalt 135.000 Mark auf der hohen Kante. Dieser Mittelwert verdeckt allerdings die Tatsache, daß Reiche immer reicher werden. Die Vermögenseinkommen – also Zinsen und Dividenden aus Kapitalanlagen – stiegen allein 1996 um 6,3 Prozent. Die Disparität in der Verteilung der Vermögenserträge ist noch größer als die Ungleichheit in der Verteilung des Geldvermögens. Zu Recht weist Horst Ahlfeldt in "Wohlstand für niemand?" (1994) daraufhin, die wachsende Polarisierung von Einkommen zwischen Arm und Reich in der Bundesrepublik nähere sich der Vermögensverteilung in Entwicklungsländern an. Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen es: Bleiben Renten- und Sozialversicherungsansprüche unberücksichtigt und werden Wohnhausgrundbesitz lediglich mit den gegenwärtigen Einheitswerten angesetzt, ergibt sich: Ein Drittel der deutschen Steuerpflichtigen besitzt im Durchschnitt allenfalls Vermögenswerte bis zu 50.000 Mark. Die restlichen, nicht zur Zweidrittelgesellschaft gehörenden Besitzbürger verfügen über Wohlstand mit Vermögen von über 50.000 Mark bis zu einer Million und darüber. Ein kleiner Teil von ihnen – nicht einmal 2 Prozent der Bevölkerung, die Einkommensmillionäre, besitzen 50 Prozent des Bruttosozialprodukts – die Hälfte – fast das gleiche Vermögen wie die übrigen 98 Prozent – der restlichen Bevölkerung – zusammen. Eben diese Minderheit von nicht einmal 2 Prozent der Deutschen gewinnen nicht nur in Zeiten des Aktienbooms an den Börsen, trotz stagnierender Wirtschaft und steigenden Arbeitslosenzahlen, überproportional.

Das heißt, daß in Zeiten abschwächender Konjunktur nicht genügend Kaufkraft vorhanden ist, weil die Konsumquote derer, auf die es ankommt – die der 98 Prozent der Bevölkerung – zu gering ist. In den unteren Gesellschaftsschichten gibt es zwar einen ungesättigten Bedarf an Konsum, der sich aber durch stagnierende und zurückgehende Realeinkommen durch Einsparungen im Sozialbereich, steigender Arbeitslosigkeit sowie Abgabenbelastung marktmäßig nicht befriedigen läßt. Handel und Dienstleistung merken das täglich. Bei den oberen Einkommensschichten führen diese Gewinne allenfalls zu weiteren Geldtransaktionen, weniger zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Soweit das Geld außerhalb unserer Grenzen investiert wird, können darüber hinaus Steuerabschreibungen niedrigere Zahlungen an den Fiskus bis gegen Null bescheren.

Was ist zu tun? – So wie die Dinge liegen, wird weder ein konjunktureller Aufschwung noch eine weitere Liberalisierung unter dem Motto "Gürtel enger schnallen" den Sozialstaat bisheriger bundesrepublikanischer Ordnung retten. Gewerkschaften und SPD sind ohne überzeugenden Gegenentwurf. Die Umstrukturierungsmaßnahmen der Großindustrie mit dem Ziel, in ihrem Heimatland Kosten zu reduzieren, setzen unweigerlich Arbeitsplätze frei. Die Inlandsnachfrage bleibt deshalb schwach, die Investitionstätigkeit springt deshalb in Deutschland nicht an. Nur wenn dem Schutz des Sozialstaates – das heißt der Lebensbedingungen unserer Mitbürger – in den europäischen Staaten vor einem weltweiten Handel Prioritäten eingeräumt werden kann, hat ein Europa der Vaterländer noch eine Chance. Es darf nicht sein, daß nur die Reichen reicher werden, der Mittelstand, die Bauern und die Selbständigen aber in ihrer Existenz bedroht sind und die Steuergelder für die Sicherung eines Rechts- und Sozialstaates, wie es unser Grundgesetz will, aus dem Lande geschafft werden. Ohne Wiedergewinnung des Primats der Politik gegenüber der Wirtschaft gibt es in Deutschland und Europa auf Dauer keinen Wohlstand mit erfolgreicher Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Nicht eine Weichwährung Euro ist deshalb die Lösung, sondern eine durch demokratisch legitimierte Institutionen entwickelte europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Nationalstaaten den Freiraum für nationale und regionale Lösungen läßt. Das bedeutet einen eigenen dritten Weg – weg von einem durch die USA gesteuerten Wirtschaftsimperialismus – hin zu einer der westeuropäischen Zivilisation verpflichteten Ordnung. Wachstum ohne Wohlstand zum Wohle einer vom US-Großkapital gesteuerten weltweiten Expansion der Reichen und Superreichen auf Kosten einer überwiegenden Mehrheit ist nicht unser Ziel. Das ist nicht der Weg in die Moderne, sondern führt endgültig zurück in die Barbarei.

Ein solches Szenario hat schon Ludwig Erhard für ein von Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide de Gasperi angestrebtes Europa der Vaterländer nicht gewollt. Deshalb war er stets dafür, in Märkten, auf denen vollständiger Wettbewerb, beispielsweise durch Dumpinglöhne und -preise aus Billiglohnländern nicht hergestellt werden kann, die mißbräuchliche Ausnutzung von Marktmacht zu verhindern. Staatliche Organe zur Überwachung und – wenn nötig – zur Beeinflussung des Marktgeschehens hielt er deshalb für unumgänglich (Erhard, Wohlstand für alle, S. 137). Die Laisser-faire-Ökonomie seiner selbsternannten Enkel nach dem Motto "Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt" kann sich deshalb nicht auf ihn berufen.

Kein Mensch bestreitet, was jeder weiß: ein Fußballspiel ohne Schiedsrichter ist nicht möglich. Der Interessenausgleich in einer Bevölkerung, in der Gemeinwohl und Solidarität immer schwerer verstanden werden, bedarf es des Staates als Schiedsrichter heute mehr denn je. Sorgen wir dafür, daß entsprechend der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes durch unsere parlamentarische Institutionen gewährleistet wird, daß der Sozialstaat Bundesrepublik nicht auf dem Altar des Euro und einer weltweiten Globalisierungspolitik geopfert wird.


 
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