© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/97  05. September 1997

 
 
Schulanfang: Der Ernst des Lebens in der Literatur
Überleben ist schon möglich
von Thorsten Hinz

"Also lautet ein Beschluß: Daß der Mensch was lernen muß!", reimte Wilhelm Busch. Am vergangene Wochenende fanden dazu in Sachsen die Einschulungsfeiern statt. In Zweierreihen und zu den Akkordeon-Klängen von "An die Freude" zogen die ABC-Schützen in die Arena. Auf der Bühne tanzten zehnjährige Mädchen erst in Marienkäfer- und dann in Aerobic-Kostümen, wobei alle sich anstrengten, auszusehen wie Jane Fonda. Die Direktorin ermahnte die Kleinen: "Bis jetzt wart ihr noch Vorschüler, doch nun übergebe ich das Klassenbuch eurer Klassenleiterin. Hiermit seid ihr Schüler der Klasse 1 b!" Beim anschließenden Gedrängele für das Gruppenfoto, wo sich jeder der nunmehrigen Erstkläßler mit mannhoher Schultüte zum Stolz der Eltern möglichst weit vorn plazieren wollte, gab es sogar eine blutige Lippe. Irgendwie glich die Szenerie einer Illustration zu den Passagen aus Botho Strauss’ "Fehler des Kopisten", in denen er darüber klagt, seinen Sohn an die Schule abgeben zu müssen, auf daß dieser mit modernem "Plunderbewußtsein" vollgestopft werde.

Gegen anschwellende Depressionen hilft da ein Blick in die deutsche Literatur; der aktuelle Schock wird so historisiert und entdramatisiert. War nicht schon Hermann Hesses Bildungsroman "Das Glasperlenspiel" (1943) gegen das "feuilletonistische Zeitalter" gerichtet, warnte aber gleichzeitig vor dem Rückzug in eine geschichtslose "Schweiz des Geistes"? Auch der Titelheld in dem klassischen deutschen Bildungsroman, in Goethes "Wilhelm Meister" (1795/96), schließt sich einer Theatergruppe an, eine Plunder-Gesellschaft, wie sie schlimmer nicht denkbar ist: Ein geistesgestörter alter Harfner, der in einer undurchsichtigen Beziehung zu einem zwölfjährigen Mädchen steht, endet mit durchschnittener Kehle; es gibt Inzest, und unehliche Kinder werden in die Welt gesetzt – Goethe selbst bekannte rückblickend, um seine Idee vom tätigen Leben zu exemplifizieren, habe er den "allerelendsten Stoff" wählen müssen. Novalis witterte Verrat an Poesie und am Wunderbaren und hielt seinen Roman "Heinrich von Ofterdingen" (1800) dagegen, der das Bildungserlebnis aus der erfahrbaren Welt in ein idealisiertes Mittelalter verlegte.

Adalbert Stifter versuchte im "Nachsommer" (1857), seiner erklärten Streitschrift gegen die "elende Verkommenheit", einen idealen Bildungsprozeß zu zeichnen, der die Welt aufnimmt, ohne mit ihrem Schmutz in Berührung zu kommen. Dank väterlichen Reichtums kann Heinrich Drendorf seine Anlagen ungehindert ausbilden, ohne zu einem Brotberuf gezwungen zu sein. Seine Lehrjahre vollziehen sich ganz wesentlich auf dem alpinen Aspernhof, einem Kosmos en miniature, wo alles aufs Schönste geordnet ist und Rationalität, Effektivität, kunstgerechte Wirkung im Gleichgewicht stehen. Hier wenigstens sind sämtliche Einzelheiten einer sonst sinnentleerten Welt von einer göttlichen Idee durchdrungen und sinnvoll geordnet. Der Preis für diese harmonische Totalität ist die Ausblendung politischer Krisen, sozialer Erschütterungen, technischer Entwicklungen, moderner Psychologie und Leidenschaft. Der zartbesaitete Hugo von Hofmannsthal versuchte, in einer 1924 verfaßten Studie zu zeigen, wie der "Nachsommer" über den eigentlichen Erziehungsroman hinausgeht und zum vorbildlichen "Staatsroman" werde. Er dekretierte, das Buch habe sich "zu einem immer höheren wirksameren Leben stetig und unaufhaltsam erhoben". In seiner Rede vom "Schrifttum als geistigen Raum der Nation" (1926) wurde er noch deutlicher: Geist müsse Politik und Politik Geist werden! Doch bekanntlich kam alles ganz anders, als Hofmannsthal dachte, und durchgesetzt hat sich eine andere Lesart: die von Arno Schmidt über den arbeitsscheuen Dandy Heinrich Dendorf oder Heinrich Bölls köstlich-parodistischer "Epilog".

Auch die vielen "Schulromane" zeigen: die gute alte Zeit war gar nicht so gut. In C. F. Meyers "Die Leiden eines Knaben" (1883) stirbt ein Dreizehnjähriger am Haß jesuitischer Lehrer. Ähnlich ergeht es Hanno Buddenbrook aus Thomas Manns berühmten Roman von1901: Selten war der disziplinierte Großschriftsteller so dezidiert antipreußisch wie dort, wo er die "preußische Dienststrammheit", die nach der Reichsgründung auch an Lübecks Schulen herrschte, geißelt. Hanno, verzweifelt: "Ich habe Angst. Ich habe eine unsinnige Angst, sie tut mir überall weh im Körper." Seine Erlösung ist der Typhus. Heinrich Manns "Untertan" (1918) Diederich Heßling (der ursprünglich Hänfling hieß) ist eigentlich ein "weiches Kind", wird aber so abgerichtet, daß er Tritte von oben willig entgegenimmt und nach unten tritt. Emil Strauß’ "Freund Hein" (1902) zerbricht genauso wie der Protagonist aus Hermann Hesses "Unterm Rad" (1906) – der Roman enthält Erlebnisse, die der Autor an der berühmten Lehranstalt im Kloster Maulbronn machte – am autoritären Lehrergebaren. Musils "Zöglings Törleß" (1906) kann sich diesem Schicksal nur durch Flucht entziehen.

Und in der Nachkriegszeit? Im Freibeuter veröffentlichte Ulrich Holbein, Jahrgang 1954, eine Erzählung über "Das Gorilla", respektive über seinen Lehrer für Sport, Erdkunde, Geschichte, Biologie, Sozialkunde, einen autoritären Pauker, der Gewaltmärsche liebte und mit Ledergürtel auf die Waden müder Schüler schlug. Auf Klassenreisen weckt er sie, indem er einen Blecheimer in den Schlafsaal schleuderte. Bei Holbein lösen die Erinnerungen heute noch Alpträume und Rachegefühle aus. Die Erlösung war der Abschluß der mittleren Reife und – das Jahr 1968. Doch auch das brachte keine angstfreie Harmonie in die Schulen: Karlheinz Weißmann wußte jüngst in Gegengift vom autoritären Psychoterror gegenüber Schülern zu berichten, die sich partout nicht an das antiautoritäre Schülerideal der "68er" anpassen wollten.

Auch außerhalb neurechter Zirkel macht man sich längst weidlich drüber lustig. Die Zeit stellte gerade vorab einen Roman des Gymnasialdirektors Friedrich Mahlmann vor, in dem der Alt-68er Hubert Röckmann sein Unwesen treibt: ein Ewig-Betroffener, "der sich Haare in der Friteuse wäscht"und unablässig Menschenketten, Schweigekreise und Friedensgottesdienste organisiert. Doch wehe dem, der sich seinen "Betroffenheitsorgasmen" entgegenstellt: eine Mischung eben aus Kotzbrocken und armen Würstchen.

Doch an sowas stirbt man längst nicht mehr. Ein sächsischer Gymnasiast, der im IC "Bertolt Brecht" zwischen Berlin und Leipzig neben mir saß, berichtete vom Treiben eines aus Hamburg zugereisten jungen Lehrers. In Biologie sei er eine "totale Niete", um so inbrünstiger arbeite er in der Politischen Bildung das Thema "Neonazismus und Fremdenhaß in Ostdeutschland" auf, was die Schülern auf Dauer "nerve". Sie ließen ihn das auch demonstrativ spüren, was ja ihr Recht sei, oder? Von soviel antiautoritären Dialektik verunsichert, seien ihm mal die Worte "blöde Ostler" rausgerutscht, worauf sie ihn durch Buh-Rufe zum Schweigen gebracht hätten. "Beim nächsten Mal", raunte der Gymnasiast mir zu, "gibt’s einen Tritt in den Hintern". Vermutlich war es eine Beförderung des allgemeinen Wertezerfalls, darauf spontan und vergnügt in die Hände geklatscht zu haben. Der Fortschritt ist zwar eine Schnecke, aber immerhin: Ein paar Überlebensmöglichkeiten hat man in der modernen deutschen Bildungswelt inzwischen schon.


 
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