© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/97  05. September 1997

 
 
Bernd Guggenberger: Das digitale Nirwana
Die Kinder von Apple und DOS
Rezension von Werner Olles

Über die psychischen, sozialen und kulturellen Folgen der sogenannten neuen Technologien ist schon so manches Kluge und weniger Kluge geschrieben worden. Mit Abstand zum besten gehören Bernd Guggenbergers Texte. Was er über den kollektiven Gedächtnisverlust der Lebenden zu sagen hat, ist wohl einer der aufregendsten und zugleich deprimierendsten Befundberichte der letzten Jahrzehnte. Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen: In den USA sind die meisten städtischen Friedhofsverwaltungen inzwischen dazu übergegangen, die Regelruhezeiten ihrer Toten unter die Fünfjahresgrenze abzusenken. In China stößt der Reisende dagegegen in der Umgebung winziger Dörfer auf ausgedehnte Gräberfelder mit tausenden von Grabsteinen, die ihn jederzeit daran erinnern, daß die Toten die überwältigende Mehrheit stellen, die Lebenden aber nur eine Minderheit auf Zeit und Abruf sind und das Leben nichts als eine kurzfristige Ausnahme von der Regel des Todes ist. Guggenberger konstatiert kühl, daß die Gegenwärtigen unfähig sind, sich als Erben zu begreifen. Sein sachdienlicher Hinweis, daß das kleine weiße Plastikstäbchen, mit dem wir für ein paar Sekunden unseren Morgenkaffee umrühren, über 500 Jahre braucht, um zu verrotten, genügt bereits, um den ungebremsten Chauvinismus der geschichtslosen Jetztzeit-Wesen in ihrem Vermehrungsrausch zu dokumentieren. Tausend Jahre nach der Errichtung der Kathedrale von Reims und fünfhundert Jahre nach den Gemälden Botticellis kennen wir in unserer Mediokrität, Maßlosigkeit und Trivialität zwar die genauen Ziffern des Bruttosozialprodukts, haben aber das Korrektiv der nachwirkenden Vergangenheit längst umstandslos ad acta gelegt.

Der Autor zitiert Tschingis Aitmatow: "Die Menschen werden schlecht, wenn sie nicht an ihre Väter denken." Aber die Kinder von Apple und DOS sind – gleichgültig ob in San Francisco, Berlin, Zürich, Tokio oder Hongkong – nicht mehr Angehörige einer territorialen Raumgemeinschaft, sondern zunehmend ortlose und mobile Gesellen einer fahrenden Zeit, zusammengehalten vom Jargon des kosmopolitischen Diskurses der Saison. Diese Meta-Realität eines Zeit-Raum-Netzes verbietet es, sich an einen Menschen oder einen Ort ganz zu verlieren. So werden wir millionenfach zu Claqueuren globaler Teilhabeofferten, denen nichts mehr heilig ist außer der Grenzenlosigkeit einer Zeitgenossenschaft hedonistischer Nomaden, für die nur noch chrono-politische Zugehörigkeiten maßgebend sind.

Andererseits erleben wir die Wiederkehr der Ethnien. Guggenberger schildert dieses notwendige Scheitern der "offenen Gesellschaft" als Konzept der politischen Moderne nicht ohne ironische Zustimmung. Alte und viel zu lange unterdrückte Konflikte brechen wieder auf und scheren sich keinen Deut um den "par ordre du mufti" befohlenen Universalismus und Internationalismus der selbsternannten Gralshüter einer utopischen multikulturellen Weltgesellschaft. Diesen neuen Regionalismus und Nationalismus beschreibt der Autor korrekt als "soziales Nahweltbedürfnis", als "Abwehrkampf gegen die Entgrenzung der neuen Zeitordnung", als verzweifelten "Versuch, den gegliederten und begrenzbaren Raum zu behaupten" oder wenigstens partiell wiederzugewinnen. Diese "im Kern humane soziale Wiederverräumlichung" ist als reduktionistische, nicht-expansive Raumideologie zu verstehen, eine "Reconquista der alten Raumordnung". In diesem Zusammenhang warnt der Autor eindringlich davor, die Überforderungsreaktionen einiger weniger vorschnell als "rechte Modernisierungsverweigerung" mißzuverstehen, denn die "physische Globalisierung der Welt überfordert uns zunehmend alle!"

Mit der sozialen Gleichschaltung großer Räume fand eine Verzeitlichung und Enträumlichung statt, die uns zu schutzlosen Jetztzeit-Wesen degradierte, zu "Analphabeten eines kalten Kosmopolitismus", scheinbar betroffen von den Problemen der gesamten Menschheit und der ganzen Welt, gleichgültig gegenüber dem Nächsten. Bodenständigkeit und Seßhaftigkeit sind diesem Typus ein Greuel, und in den Kollektiven des affektiven Gleichklangs herrscht so ungebrochen wie artikulationsunfähig das Einweltbewußtsein. In dieser auf Sozialreparatur angewiesenen Gesellschaft zieht man im Laufe seines Lebens etwa zwanzigmal um, ist einschließlich der Paarbeziehungen alles zeitlich befristet und gilt die Talk-Show als angemessene Form des sozialen Umgangs. Guggenberger konzediert, daß dies alles mit der Realität ungefähr soviel zu tun hat wie der Frankfurter Zoo mit der Fauna des Regenwaldes, merkt aber an, daß in der massenmedial konstruierten Beschleunigungsgesellschaft der Mensch letztlich ohne seinesgleichen auskommt. Wenn aber die Bilder beginnen, schöner und spannender zu werden als die Wirklichkeit und wenn schließlich niemand mehr die Realität vermißt, dann werden biotopographische Identitäten zugunsten einer konsequenten Ortlosigkeit aufgegeben und spätestens dann wird auch die "Zivilisationsgesellschaft" zur beliebigen, unterschiedslosen und willkürlichen Passage eines virtuellen Weltausschnitts. Eine Nation, die Ulrich Wickert, Steffi Graf, Margarethe Schreinemakers und Hans Meiser zu den zehn bedeutendsten Deutschen zählt, ist so urteilsgeschädigt wie wunschkrank, so manipuliert wie idiotisiert.

Guggenbergers ungeheuerliches Buch läßt mehr vom Schrecken der Katastrophe erahnen als uns lieb sein dürfte. Ohne jede Umschweife nennt er die Todsünden, die in das soziale, kulturelle und geschichtliche Nirwana führen, beim Namen: die Entmachtung von Lebenserfahrung ("Alle Macht den Kindern!"), die Transhumanität des Cybersex, die Light-Diktatur einer hypertrophen Info-Netz-Welt, die Planierung des hegenden Raumes, die Verabschiedung von Natur, Menschen und Dingen als den Realia unserer Erfahrungen und die Abschaffung der Verbindlichkeit des Ortes und der Zeit. Man kann ihm nur zustimmen, wenn er in dieser Entgemeinschaftungspraxis auch die endgültige Absage an die Geschichte und das Schicksal sieht. Im Hinterhof unermeßlicher virtueller Welten entsteht so die schöne bunte Schablone einer multikulturellen Gesellschaft der Gleichgeschalteten und Entgrenzten. Daß sie nicht funktionieren kann, sollte niemanden trösten. Wer Bernd Guggenbergers Buch gelesen hat, bedarf mehr als nur des Trostes.

Bernd Guggenberger: Das digitale Nirwana, Rotbuch Verlag, Hamburg 1997, 268 Seiten, geb., 29,80 Mark


 
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