© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Absturz der Firma Deutschland AG
von Wolfgang R. Grunwald

ktuell untersuchen große Unternehmensberatungsgesellschaften wie Kienbaum, Roland Berger und andere in den Medien das "Unternehmen Deutschland AG". Die Analysen und Konzept-Vorschläge der Unternehmensberatungen sind symptomorientiert und lassen einen ganzheitlichen Ansatz vermissen. So bleiben wesentliche wirtschaftliche Erfolgs- und Mißerfolgsfaktoren außen vor. Wie in der frühen Betriebswirtschaftslehre wird nur der mechanistisch funktionierende Homo oeconomicus gesehen, der sich lediglich besser analytisch und konzeptionell organisieren muß. Eigentlich müßten es die Berater besser wissen: Die (Miß-)Erfolgsquote bei der Umsetzung neuer Management-Konzepte in die Praxis zeigt, daß der Erfolg oder Mißerfolg von Veränderungsmaßnahmen in einem Unternehmen wie auch für Deutschland auch in starkem Maße von scheinbar nichtrationalen Elementen bestimmt wird, nämlich dem Verhalten der Menschen ("Organisational Behaviour").

Zudem muß klar sein, was eigentlich der Handlungsmaßstab und die Meßlatte für das Handeln ist, um das Ziel der Sanierung des Unternehmens Deutschland zu erreichen. Ein Austausch des Managements der "Deutschland AG" allein reicht nicht aus, sondern muß einhergehen mit einer neuen Unternehmensphilosophie, -kultur und Zielsetzung. Aber woher nehmen?

Auch wenn vor Jahrzehnten das Bonmot umging, daß ein Bonner Minister nicht ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen könne, wird allmählich sichtbar, daß der jahrelange allgemeine Werteverfall auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet nicht ohne Folgen geblieben ist. Das Grundgesetz muß als Handlungsmaßstab und als Meßlatte für die Politik wieder zur Geltung kommen. Per Amtseid verpflichten sich Bundespräsident und Bundesregierung nach Artikel 56 Grundgesetz zur Treue gegenüber dem eigenen Volk: "Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe." Die Vertretung des Wohles des deutschen Volkes zeigt sich in der Identifikation und Durchsetzung der Interessen Deutschlands durch Parlament, Regierung und Bundespräsident.

Als Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt sowie als Meßlatte deutscher Politik muß diese Wertebestimmung der "Unternehmenskultur Deutschland" als Basis für die Ableitung jeglicher weiterer Ziele im ökonomischen, kulturellen, geschichtlichen und außenpolitischen Verständnis vorausgehen. Träger der Umgestaltung ist die classe politique der Bundesrepublik Deutschland und die Parteien, die laut Grundgesetz am politischen Willensbildungsprozeß "mitwirken" sollen.

Die politische Klasse in Deutschland, so schrieb bereits 1986 Ursula Hoffmann-Lange ("Eliten und Demokratie in der Bundesrepublik"), bestehe aus einem "Einflußzirkel von 600 Personen", die die Staatsgeschäfte unter sich abwickeln. Das Kartell etablierter Parteien, so haben Parteienkritiker wie Erwin K. Scheuch kritisiert, wirkt nicht mehr nur an der politischen Willensbildung mit, sondern hat den Staat in seinen Griff gebracht. Der Staat ist zur "Beute" (Hans Herbert von Arnim) geworden, und die Alt-Parteien sind mit dem Staat eins geworden – mit den entsprechenden Folgen. Arnim, Rektor der angesehenen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, beschreibt im Detail, wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen (Diäten, Renten, Hamburger Bürgerschaft 1991, Lafontaine, Sachsen-Anhalt, Süssmuth etc.). Als Beutemasse ziehen die Altparteien als Quasi-Kartell jährlich mindestens eine Milliarde Mark (Arnim) aus dem Steuertopf, auf der Basis von Gesetzen, die sie selbst beschlossen haben (Wahlfinanzierung, Stiftungen, Pensionen). Die Lösungskompetenz der Parteien für die existenziellen Herausforderungen des Gemeinwesens ist nicht mehr durchgängig gegeben. Sichere Listenplätze erhält der Abgeordnete nach dem Handels- und Auswahlmechanismus: Listenplatz gegen Treue. Das fördert nicht den unabhängigen, souveränen Abgeordneten, sondern den opportunistischen.

Mit dem Durchdringen aller Lebensbereiche wollen die etablierten Parteien jede Alternative zum Zugang zur Macht und zu Pfründen ausschließen. Zur Durchsetzung ihres allumfassenden Gesinnungsdrucks setzt die Politik verschiedene Instrumente ein, die im Ergebnis darauf hinauslaufen, den einzelnen durch Androhung des Verlusts gesellschaftlicher Reputation auf Stromlinienförmigkeit zu trimmen.

Die Medien erfüllen oft nicht mehr die Funktion, die ihnen in einem demokratischen Land zukommt. Der Rundfunk ist vollkommen dem Parteienproporz unterworfen. Die wichtigsten Kommentatoren der Sendeanstalten verfügen fast alle über ein Parteibuch – in der Regel das der SPD. "Media Perspektiven" befragte im Frühjahr 1993 in einer repräsentativen Umfrage Journalisten aller Mediengattungen nach ihrer politischen Einstellung. Das Eregebnis: Als politisch neutral bekannten sich 4 Prozent, als christlich-demokratisch, rechts-liberal und konservativ 15 Prozent, als links, linksliberal und grün 85 Prozent. Das heißt: Ein links grünes, in der Regel wirtschaftsfeindliches Netzwerk entscheidet, was volkspädagogisch gut oder böse ist. Nahezu alle tradierten Säulen der Gesellschaft (Kirche, Armee, Recht, Familie, Geschichte) werden in den Medien unterlaufen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Rotgrüne universalistische und egalitaristische Gesellschaftsmodelle werden propagiert. Bevorzugung von Minderheiten, unbegrenzte Selbstverwirklichung und Verteufelung von "Sekundärtugenden" wie Disziplin, Fleiß usw., die auch für einen Wirtschaftsstandort eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben, werden systematisch angegriffen bzw dem Vorwurf des Faschismus’ ausgesetzt. Medienvielfalt bewirkt keine Meinungsvielfalt. Jeder, der ein Gedächtnis hat, das noch 25 Jahre zurückreicht, erinnert sich, daß damals eine wesentlich breitere Meinungsvielfalt herrschte als heute.

Die Gewaltenteilung ist in wichtigen Bereichen eingeschränkt. Entscheidungen werden nicht mehr in den dafür verfassungsmäßig vorgesehenen Staatsorganen getroffen, sondern auf Parteitagen, informellen Treffen, "Kanzlerrunden" usw. Das führt dazu, daß die Legislative die Exekutive nicht mehr so kontrollieren kann, wie es für eine funktionierende Demokratie lebensnotwendig ist. Durch oligarchische Binnenstrukturen der Parteien haben diese an Bodenhaftung verloren. Kritik wird nicht mehr zugelassen oder nicht ernstgenommen, sondern als Kommunikationsproblem interpretiert. Wenn der Bürger bei Wahlen Kritik übt, heißt es dann, man habe wohl eine an sich richtige Politik lediglich dem Bürger nicht richtig vermittelt.

Zusammenfassend gefragt: Können wir von einer solchen politischen Klasse die Anwendung der Vorschäge der Unternehmensberatungsgesellschaften für eine "Deutschland AG" überhaupt erwarten? Ist das System aus sich selbst heraus noch reformfähig?

Die Interessen eines jeden Volkes zielen auf heutige und zukünftige Sicherung der physischen Existenz in dem historisch gegebenen bzw. völkerrechtlich anerkannten Lebensraum. Es ist peinlich für die Wirtschaftspresse, wenn erst in der letzten Zeit Sensationsaufmacher erscheinen, Deutschland finanziere als Nettozahler die EU mit 60 bis 80 Prozent und zahle 170 Milliarden Mark in den Jahren 1991 bis 97 zuviel. 150 Milliarden Mark würden in Zukunft netto an die Europäische Zentralbank aus Deutschland abfließen, usw. – Erkenntnisse, die seit Jahren bekannt sind.

Wenn eine Asylmißbrauchsquote von 95 Prozent seit Jahren besteht, die Regierung sich aber standhaft weigert, dagegen vorzugehen, geschweige denn, dies in Kostengrößen zu gießen mit dem Argument, das sei unmöglich, warum schweigt die Wirtschaftspresse dazu? Denn daß die Wirtschaft all diese Entscheidungen mitfinanzieren muß, steht ja außer Zweifel. Jedes Jahr fließen in diesen Bereich Jahr 80 Milliarden Mark aus Steuermitteln, 60 Milliarden Mark haben die Unternehmen an Bürokratiekosten direkt zu tragen. In den letzten Jahren gingen 110 Milliarden Mark an Ex-UdSSR-Länder, 51 Milliarden an Polen, Tschechien, Ungarn, 22 Milliarden Mark für Golfkrieg, von den immensen Kosten der Arbeitslosigkeit usw. einmal ganz abgesehen. Eine Liste fast ohne Ende: Debatten über die Rückführung des Solidaritäts-zuschlages in Höhe von wenigen Milliarden Mark erweisen sich als Scheindiskussionen. Wie lange würde sich ein solches Management in der Wirtschaft halten, das sich so von anderen Unternehmen über den Tisch ziehen läßt und die Transparenz verweigert?

Wo ist das Controlling und wer der Aufsichtsrat der Deutschland AG, der diese Zahlen anfordert und abgleicht mit den Grundsätzen der Unternehmenskultur und offen und nüchtern diskutiert? Wo ist die Hauptversammlung, auf der alle diese Fakten sauber und klar gefordert und vorgetragen werden? Mit den obengenannten Abflüssen ohne Gegenleistung könnten die Lohnnebenkosten um einige Prozentpunkte gesenkt werden: Arbeiten für den einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitsplätze zu schaffen, würde automatisch interessanter. Millionen Arbeitsplätze könnten durch eine sinnvolle Allokation der Mittel geschaffen werden.

Aber die Kritik durch die politische Opposition und/oder die Medien funktioniert eben nicht oder nur in beschränktem Umfang und erreicht bestenfalls eine Minderheit. Die Wirtschaft und die Wirtschaftspresse haben sich in diesen fundamentalen Fragen unserer Zukunft bislang versteckt und keine knallharte Position bezogen.


 
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