© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Rammstein: Ihr Erfolg ist akzeptiert – Verstörungen wirken nach
Chiffre des Unheimlichen
von Thorsten Hinz

"Um Jottes Willen, bloß nicht Remscheid!" tönte es noch im vergangenen Jahr, beim Badeurlaub auf Rügen, nach Einschalten des Recorders hinter den Kreideklippen. Das würde heute nicht mehr passieren! Wer wie Rammstein seine erste CD inzwischen über vierhunderttausend- und die zweite über fünfhunderttausendmal verkauft und dazu noch die Filmmusik für den David-Lynch-Film "Lost Highway" geliefert hat, der steht oben und ist in aller Munde. Allerdings, die Halbwertzeiten des Ruhms werden immer kürzer, und schon taucht der Verdacht auf, es sei eigentlich Zeit für einen Nachruf.

In ihren Texten geht es um Lustmord, Inzest, Nekrophilie, Sado-Maso, um apokalyptische Visionen: "Weil der Meister uns gesandt, verkünden wir den Untergang", georgelt es da, Blut wird vom Degen geleckt, und Liebe ist Krieg, der das Bett in Flammen setzt. Wo andere Bands auf existentialistisch machen und gedankenverloren ins Nirgendwo starren, zeigen sie muskulöse Oberkörper, stiere Blicke, betont machohafte Gesten. Auf der Bühne entfachen sie einen Feuerzauber; über den Symbolwert darf nachgedacht werden. In Wahrheit ist viel ironisches Spiel und Selbstinszenierung dabei; jenseits tatsächlicher oder vermeintlicher, inzwischen marktkompatibler Skandale läßt sich das ästhetische Programm der Rammsteine aus drei Titeln extrahieren: Zunächst aus dem Song "Ramm-stein" selber, betitelt nach jener amerikanischen Flugbasis, auf der sich 1987, zwischen Libanon- und Golfkrieg, Zehntausende mündige Bürger versammelten, um sich am Flug der Bomber zu berauschen und die durch eine unvorhergesehene Panne plötzlich ihr privates Beirut erlebten. "Rammstein – ein Mensch brennt", "Fleischgeruch in der Luft", "Blut gerinnt auf dem Asphalt" hämmert es im Sprechgesang, dazwischen ständig das mitleidlose "Die Sonne scheint". So geht es, wenn der Spaßgesellschaft für Augenblicke die lächelnde Maske vom Gesicht rutscht! Das zweite Lied ist "Seemann", das seine Wirkung aus der Spannung zwischen dem sensiblen Gesang Till Lindemanns einerseits und dem martialischen Synthesizer-Gewitter des Refrains anderseits bezieht: Das Gefühl individueller Verlorenheit (die Laterne aus der todessüchtigen "Lilly Marleen" wird zitiert; es gibt die schöne Metaphern wie "das Tageslicht fällt auf die Seite") im Draußen der "kalten See", gegen die ein Bund der einzige Schutz ist. Wobei offenbleibt, ob es sich, wie gemutmaßt, um einen "archaischen Männerbund" oder um eine ganz banale Ehe handelt. Das rollenden "R" jedenfalls wirkt eher parodistisch als archaisierend.

Und bei dem Song "Du riechst so gut – ich geh dir hinterher" schwankt der Hörer, ob es um einen Held unserer Zeit – einen Verbraucher – auf der Jagd nach Seife geht; um einen Lustmörder, der seinem Opfer auf der Spur ist, oder um einen Heimatlosen auf der Suche nach einem politischen Führer. Hier wird dem Animalischen und, um mit den Mitscherlichs zu sprechen, dem inneren Hitler durchaus empathisch und darum umso ehrlicher die Stimme geliehen. Das hat wenig mit dem sicherheitsstiftenden Gut-Böse-Schema, aber viel mit dem Leben zu tun und wirkt subversiv und verunsichernd, wenn man gewohnt war, von BAP und Grönemeyer mit dem Kassandraruf "Kristallnacht" die Richtung gewiesen zu bekommen. Überhaupt bietet Rammstein Einblicke in die Zusammenhänge zwischen individual- und massenpsychologischen Dispositionen, die üblichen Erklärungsmustern zuwiderlaufen und eine provokante metaphorische Wirkung entfalten: Wann wäre das zwanghafte Verhältnis des Reemtsma-Deutschen zum inzwischen entzauberten Historiker Goldhagen besser beschrieben worden als in diesem Lied: "Bestrafe mich / bestrafe mich / Stroh wird Gold / und Gold wird Stein / deine Größe macht mich klein / du darfst mein Bestrafer sein".

Und das wird fünfhunderttausendmal verkauft. Wie konnte es nur soweit kommen? – Da ist die Herkunft der Bandmitglieder aus der DDR, wo sie zuletzt in Underground-Punk-Bands spielten. Dem vormundschaftlichen Staat und den von ihm ausgelösten körperlichen und seelischen Mangelsyndromen wurde künstlerisch eine aggressive Mischung aus Dionysos und Stahlgewitter entgegengesetzt, gerade in der Provinz, wie sich Frank Castorff, Chef der Berliner Volksbühne, erinnerte. Bis heute wirkt die radikale Absage an kollektivistische Vereinnahmungsversuche durch Beglückungsideologen nach, die 1989 in der DDR erstmal endeten, dann aber unter anderen Vorzeichen wieder Urständ feierten. Wie früher in der DDR, interessiert an den – fast ausschließlich westdeutsch dominierten, deshalb als "kolonialistisch" empfundenen – Großdiskursen weniger, was sie benennen, sondern vielmehr das, was sie ausblenden oder verdrängen. Und siehe da, man wird wie ehedem rasch fündig. Insofern sind die Rammsteine auch erfolgreiche Wiedergänger des niedergewalzten Präsidentschaftskandidaten Steffen Heitmann. Das könnte niemals soviel Erfolg haben, wenn nicht überall das Gefühl bestünde, daß der Absolutheitsanspruch einer Kultur aus gereimtem Böll, Sozialwissenschaft und wohlstandsunterfütterter Hochmoral am Ende, impotent und längst Ausdruck von Macht- und Finanzinteressen ist.

Auf der anderen Seite partizipiert Rammstein an der Kultur der Selbstironie, der Pluralität und elastischen Integrationsfähigkeit, die sich "im Westen" herausgebildet hat und auch dafür sorgt, daß der MTV-Boykott ins Leere läuft. Der Tabubruch von heute ist der Mainstream von morgen. An diesem Punkt wirkt die Rammstein-Ästhetik schon wieder rührend hilflos und vorgestrig. Die Bestückung der Musiker-Gesichter mit Operationsbestecken für die zweite CD folgt denn auch bereits der Werbeästhetik. Auf der Innenseite des CD-Covers ist man unter Palmen auf weißem Strand angekommen: "Glücklich werd ich nirgendwo / der Finger rutscht nach Mexiko". Wegen dieser Banalität muß kein R mehr gerollt werden! "Sehnsucht" bietet außerdem Vater-Tochter-Sex und die Wichserei pubertierender Knaben. Hans Meiser, übernehmen Sie! Die Rammsteine schlagen heute keine Funken mehr; nur noch eine bühnengerechte Selbstverbrennung könnte sie davor bewahren, bald in den Ruf einer gealterten Boy-Group zu kommen. Interessanter als "Sehnsucht" sind die Reaktionen darauf. Aus den durchaus differenzierenden Kritiken spricht jedesmal die tiefe Irritation darüber, daß eine Musik zum Verkaufsschlager geworden ist, die über die Grenzen der Volkspädagogik nicht nur hinausgeht, sondern schon die Auseinandersetzung mit ihnen für überflüssig erachtet.

Dabei waren und sind die Ramm-steine kein Künder dräuenden Unheils, auch keine Propheten oder Begründer einer neuen deutschen Nationalkultur, was immer das sein könnte. Das "Deutsche", worunter wahlweise ihre Accessoires, ihr Feuerzauber, die geschlossene Formation, Text- und Musiksequenzen subsummiert werden, dient als Chiffre oder Symbol des Unheimlichen, auch als ironisches oder provokantes Zitat. Sie sind – in ihren besten Liedern – Symptom eines ästhetischen Paradigmenwechsels, der allmählich, sehr allmählich stattfindet.


 
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