© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Stillosigkeiten
Kolumne von Klaus Hornung

Es gibt eine Dimension deutscher Charakterwäsche, zu deren Vergegenwärtigung nicht zuletzt Urlaubsreisen in Europa Anlaß geben. Während Franzosen, Engländer, Italiener, Spanier die historischen Zentren ihrer Städte erhalten haben und damit einen Humus, der Geschichts- und Nationalbewußtsein sowie Bürgerstolz gerade auch bei den Nachkommenden ermöglicht, wurden die meisten deutschen Städte von den barbarischen alliierten Luftangriffen ausradiert, um in der Mehrzahl nach dem Krieg als geschichtslose Großstadtkonglomerate wiederaufzuerstehen, über deren "Unwirtlichkeit" Alexander Mitscherlich schon vor dreißig Jahren schrieb. Ob Köln, Stuttgart, Frankfurt, Dresden, Magdeburg – sie zeigen sich bis heute überwiegend in der nüchternen oder ärmlichen Funktionalität der fünfziger Jahre, durchsetzt mit den ästhetischen Katastrophen der Groß-Warenhäuser im Eiermann-Stil, von den grauenhaften Betonblöcken der Banken oder auch Rathäuser bis ins letzte Dorf oder dem charakterlosen neudeutschen Protzentum ganz abgesehen, das man offensichtlich auch am Potsdamer Platz und im Regierungsviertel Berlins reproduzieren will.

Ohne die "Linden" und den Gendarmenmarkt hätte auch die deutsche Hauptstadt vor allem Einkaufsmeilen à la Kurfürstendamm als Visitenkarten des nur noch schwachen Wissens der Deutschen, wer sie sind und woher sie kommen. Während die Polen zum Beispiel ihre Hauptstadt und deren Königsschloß nach dem Krieg unter widrigsten Umständen sogleich wiederaufbauten mit einem fraglosen Willen zur nationalen Geschichte und Identität, gibt es in Berlin einen nun schon Jahre währenden Eiertanz, ob das Stadtschloß wiederaufgebaut werden soll oder nicht. Während für Regierungviertel und Potsdamer Platz Milliarden verpulvert werden und die Stilunsicherheit der politischen und ökonomischen Klassen als Wille zur Metropole hochgeblobt wird, bleibt der Wiederaufbau des Schlosses dem Bemühen einer hochachtbaren Privatinitiative überlassen. Der deutsche Staat und das Land Berlin bieten hier ein Bild historisch wie kulturell analphabetischer Zeitgenossen, die sich über die preußisch-deutsche Vergangenheit moralisch und intellektuell erhaben dünken und doch nichts anderes sind als geschichtliche Eintagsfliegen ohne Ahnung von den ästhetischen und politischen Dimensionen des Bauen und Wohnens. Die Ausländer aber, die unsere Städte und die Hauptstadt sehen, werden sagen: So sind die Deutschen heute offenbar, man braucht mit ihnen nicht mehr zu rechnen.


 
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