© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/97  26. September 1997

 
 
Pankraz,
Clermont & Goebel und das Treibholz im Zeitgeist

Ein trauriges Opusculum ist dieser Tage vom Verlag "Volk und Welt" auf die Leser losgelassen worden: "Die Tugend der Orientierungslosigkeit" (so der Buchtitel). Verfasser sind angeblich zwei Werbefritzen (Fotografen, Graphiker, Texter) in den Endzwanzigern, Christoph Clermont und Johannes Goe-bel, die sich vorgenommen haben, das Lebensgefühl der sogenannten "89er" zu artikulieren und zu preisen.

Dieses Lebensgefühl, sagen sie, speise sich aus der totalen Unwichtigkeit von allem und jedem, es sei ein Sichtreibenlassen, so wie ein Stück Holz den Bach hinuntertreibt. Mal bleibe es irgendwo hängen, dann mache es sich wieder los und treibe weiter, mehr sei nicht, könne nicht sein, werde nicht sein. Und das sei gut so.

Jede Zielvorgabe, jedes "Du sollst", jede Aufforderung zum Fertigwerden und "Etwas-aus-sich-machen" sei Blödsinn, lehren Clermont & Goe-bel. Es sei nicht einmal wichtig, einen eigenen engeren Lebenskreis zu haben, Eltern, Verwandtschaft, feste Freunde, denen man in Liebe zugetan ist. Denn auch die Freunde seien nur treibende Hölzer im Bach, jeder für sich ein bindungsloses Ego, an das man rein zufällig andocke und von dem man sich rein zufällig wieder trenne. Keine sinnlosen Loyali-täten!

Eine einzige Orientierungsmarke geben Clermont & Goebel an, die für sie wichtig sei: den deutschen Bundeskanzler Kohl. Den hätten sie gewählt, aber nicht etwa, weil der ihnen Familienwerte, Fleiß und sonstige deutsche Tugenden lehre, sondern weil er in seiner Person unübersehbar die Devise "Ich will so bleiben, wie ich bin" verkörpere. Eine solche Devise sei genau das Richtige für das Hineintrudeln ins einundzwandzigste Jahrhundert, obwohl es leider immer schwieriger werde (Zitat), "Leute zu finden, die akzeptieren, wie man ist. Deswegen muß man sich ständig verändern. Da stellt sich die Frage nach einer Menge Ichs."

 

Auch die Ichfindung ist also ein zufälliges, von den "Leuten" abhängiges, im Grunde lästiges Geschäft. Das unterscheidet die Verfasser von früheren Lobrednern der "Selbstverwirklichung", die im "Selbst" eine gloriose, nur eben leider von den Umständen ruchlos unterdrückte Strahle-Instanz sahen. Für Clermont & Goebel ist das Ich zwar ebenfalls die einzige Instanz, aber ihr Ich ist ein Ich von der Stange, beliebig zusammengestoppelt aus Versatzstücken aus dem Internet, jederzeit veränderbar, auflösbar, austauschbar, eine Sache, für die zu kämpfen sich nicht lohnt.

Manches spricht dafür, daß das Buch eine Fiktion ist, der Handstreich eines moralisierenden Spaßvogels. Der wäre dann ziemlich begabt, denn "Die Tugend der Orientierungslosigkeit" vermittelt durchaus reale Einblicke in das Lebensgefühl der "89er", einer ratlosen, tief mißtrauischen, von den herrschenden "68ern" unendlich enttäuschten Generation, der alle Werte und Wegweisungen stinkend geworden sind und die nun tatsächlich "nicht mehr fertig werden will", im Larven- und Puppenstadium verharrt.

Pankraz ist weit davon entfernt, sie darob zu schelten, sieht sogar Ansätze zu mancherlei erneuerter Tugendhaftigkeit. Sich nicht festlegen zu wollen, ist natürlich so unjugendlich wie möglich, aber es birgt immerhin den Willen zu bedachtsamer Prüfung der Angelegenheiten, mit denen man konfrontiert wird. Man will sich einen Entscheidungsspielraum freihalten, will sich nichts aufdrängen lassen. Nicht unsympathisch!

Und sympathisch auch der Zug, sich selber nicht mehr so wichtig zu nehmen, über den Konnex von Ich und Außenwelt sich früh Klarheit zu verschaffen, intensiv zu kommunizieren (und sei es im Internet) und Furchtlosigkeit zu üben. Die "Informationsflut", über die die Alten so heftig zetern, stört diese "89er" überhaupt nicht. Irgendwie wird man sich schon zurechtfinden, man hat ja die Geduld und die Routine, um durch die Kanäle zu surfen und früher oder später etwas Interessantes zu finden.

Clermont & Goebel haben auch keine Angst mehr vor dem Älterwerden. Mit 28 sorgen sie sich noch nicht darum, wie es denn dereinst um die Höhe ihrer Renten bestellt sein wird, und sie nehmen es auch mit Gleichmut, wenn sie mal ihren Job verlieren und unter Umständen ganz tief unten wieder anfangen müssen. Das Leben, wissen sie (frühere Generationen haben es selten so genau gewußt), ist keine Bergsteigerei mit schließlichem Gipfelblick, sondern eine wüste Achterbahn, und man gehört nicht automatisch zu den moralischen Verlierern, wenn man eines Tages mitten in der Kurve aufhören muß.

Im Ganzen freilich ist "Die Tugend der Orientierungslosigkeit" ein grauenhaftes, scheußliches und deprimierendes Buch, voller Widersprüchlichkeiten und Dummheiten. Einerseits jubelt man: "Ich will so bleiben, wie ich bin", andererseits geriert man sich als Verächter jeglicher Tradition und überlieferter Werte, kehrt immer wieder den Ignoranten heraus und will sich nichts sagen lassen. Einerseits himmelt man die Orientierungslosigkeit an, andererseits versucht man hektisch, sich zu orientieren, zappt und stochert wie verrückt in den "medialen Angeboten" herum. Das ist einfach lächerlich.

Oder ist es vielleicht eher rührend und mitleiderregend? Zieht man allen Zeitgeistjargon und alle aufgesetzte Kaltblütigkeit von der Suada von Clermont & Goebel ab, so bleibt am Ende eine fast augustinische Unruhe des suchenden Herzens im Kontext sichtbar, eine schmerzlich manifeste Sehnsucht nach gediegener, liebender Genossenschaft. Man kann den beiden Orientierungslosen nicht mehr böse sein. Aller Zorn des Lesers richtet sich auf die Eltern und Erzieher dieser wahrhaft verlorenen Generation, die so elend und feige ins Abseits geführt worden ist.


 
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