© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/97  26. September 1997

 
 
Schattenspiele
Kolumne von Klaus Motschmann

Platon (427–347 v.Chr.) erzählt an einer maßgebenden Stelle seines Gesamtwerkes, im 7. Buch seiner "Politeia", ein einprägsames Gleichnis: In einer Höhle sitzen von Kindheit an gefesselte Menschen mit dem Rücken zum Eingang. Erhellt wird die Höhle durch ein vor dem Eingang brennendes Feuer, das sie aber nicht sehen können, sondern nur die Schatten, die dieses Feuer von allerlei Personen und Gegenständen auf die vor ihnen stehende Wand wirft. Diese Schattenspiele halten sie für ihre Wirklichkeit; mit ihnen beschäftigen sie sich; ihre Erscheinungen und Zusammenhänge suchen sie zu ergründen. Aber mehr noch: Einem Menschen gelingt es, seine Fesseln zu lösen, die Höhle zu verlassen und die Welt außerhalb der Höhle, die Wirklichkeit, wahrzunehmen. Aber als er nach einiger Zeit in die Höhle zurückkehrt und von der Wirklichkeit berichtet, wird er ausgelacht, dann für irre gehalten und schließlich sogar bedroht. Es ist ihm nicht möglich, die Mitgefangenen zu überzeugen. Sie beharren im behaglichen Halbdunkel ihrer Welt, ihrer Höhle.

Wer die innere Verfassung unserer Gesellschaft bedenkt, wird sie kaum besser veranschaulichen können als mit diesem Gleichnis. Im Banne des Zeitgeistes werden nur noch Schatten wahrgenommen, die das gleißende Licht der Fernsehkameras in rascher Folge beleuchtet, um die Menschen (w)örtlich zu betäuben. Dabei spielen die sogenannten Gatekeeper, die "Torhüter", die "Höhlenwächter" (um im Bilde des Höhlengleichnisses Platons zu bleiben) eine entscheidende Rolle. Sie scheiden aus dem Fluß der Nachrichten alles aus, was eine andere Wirklichkeit als die in der Bunkermentalität erzeugte Schattenwirklichkeit vermitteln könnte. Sie ist ja auch interessant genug, weil die Schatten von links oder von rechts oder aus der Mittelleine verschiedene Gestalt haben und Anlaß zu mancherlei Rochaden hinüber und herüber bieten. Aber die unterschiedlichen Positionen in der "Höhle" sollen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Sie täuschen die Möglichkeit von Veränderungen vor, die über kurz oder lang aber nur (ent-)täuschen, weil sie keinen Ausweg aus der Höhle, modern ausgedrückt, aus der Cyberspace-Welt der sogenannten politischen Klasse weisen. Der Ausweg liegt einzig und allein im Ausgang aus dieser "Höhle", d.h. in der Orientierung an der Wirklichkeit. Das ist ein sehr schwieriger Weg. Er ist im Laufe der Geschichte aber immer wieder gefunden worden, wenn auch zunächst immer nur von einzelnen. Aus dieser Tatsache erwächst Hoffnung.


 
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