© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
Tag der deutschen Einheit: Ein Land wächst allmählich zusammen
Normalität des Nationalen
von Detlef Kühn

Auch zum siebenten Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober hält die Diskussion um die politischen, geistigen und wirtschaftlichen Folgen der 1990 für so viele so überraschend zustande gekommenen Wiedervereinigung an. Nach Auffassung vieler Intellektueller besteht die Gefahr, daß die Mauer, die 28 Jahre lang Deutschland teilte, durch eine "Mauer in den Köpfen" der Menschen in Ost und West ersetzt wird. Dabei fällt auf, daß diese Sorge vor allem von den Zeitgenossen vorgetragen wird, die sich um die Beseitigung der höchst realen Mauer vor 1989 wenig Gedanken gemacht, diese vielmehr oft als berechtigte Strafe der Deutschen für die Untaten ihrer Väter angesehen haben.

Dem weniger pessimistischen Beobachter der Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland will es scheinen, als sei die Diskussion um die angeblich drohende "Mauer in den Köpfen" allenfalls ein Teil der Sorgen, die wir uns in den Jahrzehnten, als die reale Mauer stand, gewünscht haben. Niemand konnte schließlich ernsthaft erwarten, daß mit der Wiedervereinigung eine Zeit der unendlichen Glückseligkeit anbrechen würde. Wir tun also gut daran, diese Diskussion deutlich niedriger zu hängen. Sie ist aber dennoch nicht überflüssig; zeigt sie doch bei genauem Hinsehen, daß unter dem Schlagwort "Mauer in den Köpfen" ungeklärte Probleme und Fragen auftauchen, mit denen auch die Bundesrepublik schon vor 1989 belastet war.

Zu diesen Fragen gehört insbesondere der Umgang mit unserer eigenen, der deutschen Nation. Nachkriegsdeutschland im Westen war vor allem bestrebt, den Folgen der nazistischen Untaten durch ein betontes Pro-Europäertum zu entgehen. Es galt als moralisch hochwertig und politisch außerordentlich geschickt, auf jede deutsche Interessenpolitik tunlichst zu verzichten und unseren europäischen Nachbarn – in Abwandlung eines alten Sprichwortes – zu zeigen, wie "Europa am deutschen Wesen genesen" könne. Dies ließ man sich auch viel Geldkosten. Störend wirkte bei dieser Politik allenfalls, daß unsere Nachbarn nicht bereit waren, ihre nationalen Interessen auf dem Altar Europas zu opfern. Sie waren immer nur solange Europäer, wie es ihnen auch national nutzte. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Komplizierter war die Interessenlage der SED-Führung in der DDR. Sie war einerseits in den von Moskau gesteuerten kommunistischen Internationalismus eingebettet, wollte aber andererseits lange Zeit auch nicht auf die Mobilisierung nationaler Impulse zugunsten ihrer Machtpolitik verzichten. Dieser Dualismus beherrschte die SED-Politik noch bis in die siebziger Jahre. Erst dann wurde, als Folge der "Neuen Ostpolitik" in der Bundesrepublik, die nationale Gemeinsamkeit der Deutschen in Ost und West als Gefahr für das eigene System erkannt und fortan konsequent geleugnet. Angeblich sollten sich zwei Nationen in Deutschland gebildet haben; das Ziel der Wiedervereinigung wurde aus der DDR-Verfassung getilgt, und "Deutschland" war laut Karl-Eduard von Schnitzler nur noch der Name eines Hotels in Leipzig, der dann auch noch beseitigt wurde.

In der DDR-Bevölkerung jedoch war der nationale Gedanke stets populärer. Nicht nur verwandtschaftliche und freundliche Beziehungen verbanden viele Menschen mit dem Westen Deutschlands. Auch das Nationalgefühl, gespeist durch die Erfahrungen einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Kultur und einer alle verbindenden Sprache, wirkte als Klammer, die die durch Mauer und Stacheldraht getrennte Nation zusammenhielt. Anders ist es nicht zu erklären, daß bei den Demonstrationen im Herbst 1989, die die DDR zum Einsturz brachten, sehr schnell der Ruf ertönte "Wir sind ein Volk!"

Es war daher nur folgerichtig, daß im Dezember 1990 bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl die Parteien versuchten, sich als "Partei der deutschen Einheit" zu empfehlen – die SPD zu ihrem eigenen Schaden unter ihrem Kanzlerkandidaten Lafontaine weniger deutlich, andere, wie CDU und FDP, mit Lautstärke und schließlich auch Erfolg bei den Wählern. Daß alle etablierten westdeutschen Parteien dabei ein durchaus gespaltenes Verhältnis zu der eigenen nationalen Existenz hatten und noch haben, geriet vorübergehend in den Hintergrund.

Ungelöste nationale Probleme lassen sich jedoch auch nach der Wiedervereinigung nicht unter den Teppich kehren. Die schon vor 1989 im Westen verdrängte und tabuisierte Frage der offenbar unkontrollierten Einwanderung von Ausländern, die – subjektiv verständlich – hier ein besseres Leben suchen, hat auch das wiedervereinigte Deutschland eingeholt. Die Menschen in der ehemaligen DDR reagieren – ebenso wie die meisten Westdeutschen – mit Unverständnis darauf, daß sie den erhofften und noch zu erarbeitenden Wohlstand mit Wirtschaftsflüchtlingen aus aller Herren Länder teilen sollen.

Dies hat nichts mit "Ausländerfeindlichkeit" zu tun, die es als Massenphänomen weder in den neuen Bundesländern noch im Westen Deutschlands gibt. Es ist einzig und allen Ausdruck der ja wohl nicht unbegründeten Angst, fremd im eigenen Land zu werden, weil man sich die innenpolitischen Probleme afrikanischer, asiatischer und süd- bzw. osteuropäischer Länder in das dichtbesiedelte Deutschland holt. Unsere politische Klasse wäre gut beraten, diese verständliche Sorge nicht als "faschistisch" zu diffamieren, sondern sehr ernst zu nehmen. Von ihrer Reaktion hierauf wird die Existenz unserer demokratischen Ordnung abhängen.

Letztlich läuft es immer wieder auf die eine Kernfrage hinaus: Wie halten es die Deutschen mit der eigenen Nation? Die Flucht in die Regionalisierung oder in altdeutsches Stammesdenken kann nicht der Ausweg sein. Schon ist in den neuen Bundesländern wie auch im Westen zu beobachten, daß Menschen sich auf die Frage "Sind Sie Sachse, Deutscher oder Europäer?" nicht trauen, "Deutscher" zu antworten, obwohl man ohne Bedenken ja auch alle drei Begriffe bejahen könnte. Sich zu seinem "Deutschsein" zu bekennen, erfordert offenbar mehr Mut, als manche Leute aufbringen. Warum sollten die Bremer oder Bayern aber den Sachsen und Mecklenburgern erhebliche Transferleistungen zukommen lassen, wenn nicht auf der Basis der gemeinsamen Zugehörigkeit zum deutschen Volk?

Erst vor wenigen Wochen hat die Hochwasserkatastrophe an der Oder bewiesen, daß nationale Solidarität immer noch zählt. Bekennen wir uns zu diesem Zusammengehörigkeitsgefühl und ziehen wir daraus die nötigen Schlußfolgerungen. Es wird uns im Ausland nur glaubwürdiger machen.


 
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