© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
Offenburger "Freiheitsfest": Beginn des Gedenkens an die 1848er Revolution
Ein wirkliches Fest des Volkes

von Martin Schmidt

Die Deutschen tun sich mit dem Feiern bekanntermaßen sehr schwer – zumindest dann, wenn es sich um Gedenktage und Jubiläen der nationalen Geschichte handelt. Kollektive Begeisterung stellt sich allenfalls bei Fußball-Weltmeisterschaften oder während des Karnevals ein, jedoch schwerlich am Nationalfeiertag 3. Oktober und schon gar nicht an Daten wie dem Reichsgründungstag 18. Januar.

Daß es auch anders gehen kann, demonstrierte vom 12. bis 14. September das badische Offenburg mit dem Auftakt der Feiern zur Erinnerung an die 1848er Revolution in Deutschland.

Schon Monate vor den drei großen Tagen herrschte in der Ortenaustadt festliche Hochstimmung. Insgesamt 287 Vereine, zahllose eigens gegründete Gruppen, die Stadtverwaltung, Handwerksverbände und mittelständische Unternehmer beschäftigten sich intensiv mit ihren jeweiligen Beiträgen zum Gelingen einer Jubiläumsfeier von nationaler Bedeutung, die mit 8.000 aktiv Mitwirkenden und über 100.000 Besuchern zugleich zum größten Fest wurde, das Offenburg je gesehen hat.

Vor 150 Jahren, am 12. September 1847, hatten im Gasthaus "Zum Salmen" die "Entschiedenen Freunde der Verfassung" ihre "Dreizehn Forderungen des Volkes in Baden" verabschiedet. Über das – den mit den Karlsbader Beschlüssen 1819 eingeführten restriktiven Pressegesetzen zum Trotz – kräftig aufblühende Zeitungswesen wurde damals das national-freiheitliche Programm von Hecker, Struve & Co. nahezu in ganz Deutschland bekannt und markierte hierzulande den Beginn einer von breiten Teilen des Volkes getragenen Freiheitsbewegung, deren Höhepunkt die Frankfurter Paulskirchenversammlung darstellte.

Freudenfeuer auf den Bergen der Ortenau

Volkssouveränität und nationale Einheit (Art. 6: "Wir verlangen Vertretung des Volkes beim deutschen Bunde. Dem Deutschen werde ein Vaterland und eine Stimme in dessen Angelegenheiten. Gerechtigkeit und Freiheit im Innern, eine feste Stellung dem Auslande gegenüber gebühren uns als Nation."), Pres-se-, Versammlungs- und Glaubensfreiheit, die Einführung einer echten Volksarmee, Geschworenengerichte sowie die Etablierung einer gerechteren, progressiven Einkommensteuer bildeten die Kernforderungen der rund 800 im "Salmen" versammelten Aktivisten. Zunächst allerdings ging es diesen in erster Linie um einen werbewirksamen Auftritt vor den im Herbst desselben Jahres anstehenden Ergänzungs- und Ersatzwahlen für den badischen Landtag. Doch obgleich die 1818 unterzeichnete Verfassung des Großherzogtums Badens im Vergleich zu den benachbarten Territorialherrschaften vergleichsweise freiheitlich war (mit einem relativ modernen Wahlrecht und der Garantie der Pressefreiheit) und im "Salmen" hinter der Rednertribüne ein Bild von Großherzog Leopold die prinzipielle Loyalität zum Herrscherhaus unterstrich, agierten aus der Sicht der Radikalliberalen Friedrich Hecker und Gustav Struve die an der Regierung beteiligten gemäßigten Liberalen zu zögerlich. Vor allem forderte man eine eindeutige Absage der badischen Staatsregierung an die Karlsbader Beschlüsse und andere Manifestationen der Restaurationszeit.

Die in der Mitte des Großherzog-tums gelegene Stadt Offenburg blieb danach bis zum Juni 1849, als preußische Truppen des Deutschen Bundes einmarschierten, ein wichtiges Zentrum der "Aufrührer". Am 19. März 1848 hatte es die erste große Massenversammlung mit etwa 20.000 Teilnehmern gegeben, und noch am 12. Mai 1849 – also bereits nach dem Scheitern der Nationalversammlung in Frankfurt – waren auf dem Marktplatz des "weltberühmten Demagogenortes", wie eine zeitgenössische Bezeichnung Offenburgs lautete, 35.000 Menschen zusammengekommen, um ihrer Kritik an den herrschenden Verhältnissen Ausdruck zu verleihen.

Was das damalige Geschehen im historischen Rückblick betrifft, so gibt es große Vorbehalte etwa hinsichtlich des in Folge der Radikalisierung nach der siegreichen Februarrevolution in Frankreich von den Freischaren Friedrich Heckers übereilt begonnenen "Marsches durch Baden". Dieser Aufstand wurde dann am 20. April 1848 von badischem und hessischem Militär in Kandern blutig zerschlagen. Doch von solchen Detaildiskussion abgesehen, handelte es sich bei der "Badischen Revolution" – wie auch bei den zeitgleichen revolutionären Regungen in Berlin, in Westfalen oder in der Pfalz – zweifellos um ein ehrenhaftes und notwendiges Begehren, das als solches einen positiven Platz in der deutschen Nationalgeschichte einnimmt. Von der Offenburger Bevölkerung wurde das 150jährige Jubiläum mit der gebührenden großen Anteilnahme und sichtlicher Begeisterung gefeiert.Auf den Bergen rund um die Stadt wurden zu Beginn der Festlichkeiten Freudenfeuer entzündet, die an die flammenden Signale erinnerten, die vor anderthalb Jahrhunderten an den gleichen Orten die Aufbruchsstimmung vieler Badener bekundeten.

Wer sich zwischen dem 12. und 14. September durch die vorübergehend rekonstruierten Stadttore ins Herz des Ortes und des "Freiheitsfestes" hineinbegab, sah sich schier überwältigt von einer um möglichst große Authentizität bemühten Szenerie. Zahllose Frauen und Mädchen liefen in Kleidern und mit Strohhüten umher, die sie nach Vorlagen aus der Biedermeierzeit selbst geschneidert hatten. Die den Kopfbedeckungen der republikanischen Rebellen nachempfundenen und zum Verkauf angebotenenen schwarzen Filzhüte für die Männer, die sogenannten "Heckerhüte", waren bereits kurz nach Veranstaltungsbeginn ausverkauft. An stimmungsvollen Holzständen gab es Suppen, eine deftige "Bauernvesper" oder Ochs am Spieß zu essen – auf jeden Fall keinerlei Fast Food und keine Stilbrüche. Die örtlichen Gastronomen und Köche hatten sich eingehend mit den kulinarischen Gepflogenheiten der Vorfahren beschäftigt. Zum Trinken kredenzte man Apfelmost, ein speziell gebrautes "Freiheitsbier", "Revoluzzer"-Weine und einen "Heckerschnaps".

Die Häuserfassaden trugen schwarz-rot-goldenen Fahnenschmuck und Girlanden in den deutschen Nationalfarben bzw. den rot-gelben Farben Badens. Das Programmheft stellte den Besucher vor die Qual der Wahl zwischen fast 500 Einzelpunkten: von Straßentheaterstücken wie dem "Guckkastenlied vom großen Hecker", über die neu komponierte Kantate "Wir sind das Volk" des Offenburger Komponisten Konrad Seckinger, die Darstellung "Weier – Leben an der Kinzig" über den Alltag der Waschfrauen, Volkstänzen und Quadrillen aus dem Biedermeier bis hin zu einer "Schulstunde im alten Stil" oder der lautstark beklatschten Aufführung "Ich bin ein Turner wohlgemuth" des TV 1846 Offenburg auf dem Rathausplatz. Große Namen waren selten – von dem Elsässer Liedermacher Roger Siffer und einem Mitglied der berühmten Hochseilartisten-Familie Traber einmal abgesehen. Dennoch herrschte überall pralles Leben. Martialisch nahm sich das bäuerlich-revolutionäre "Sensenkorps" aus Elgersweier aus oder die Nachstellung eines Barrikadenbaus der Französischen Revolution von 1789 Revolution durch eine Narrenzunft aus Bohlsbach.

Jenseits der üblichen kommerziellen Umzüge

Auf verschiedenen Plätzen erklangen die Lieder der 1848er, die sich bis heute eine größere Bekanntheit bewahren konnten: das Bürgerlied "Ob wir rote, gelbe Kragen…" oder Ferdinand Freiligraths Hymne "In Kümmernis und Dunkelheit" und natürlich "Die Gedanken sind frei". In kleinen "Inseln" in allen Teilen der Innenstadt wurden der Alltag der Handwerker und Bauern sowie das Gewerbeleben vor der Industrialisierung mit Liebe zum Detail veranschaulicht. In Alltagstrachten gewandete ältere Frauen reihten mit stoischer Ruhe den ganzen Tag über Tabakblätter auf Schnüren aneinander, andere flochten ebenfalls mit großer Ausdauer Strohschuhe, wie man sie damals getragen hat. Lebende Bilder zeigten, wie es damals in den Bauern- und Bürgerstuben aussah. Die Flößergilde Gengenbach-Schwaibach erinnerte mit dem originalgetreuen Nachbau eines Kinzigfloßes daran, daß sehr viele Badener in diesen unruhigen Zeiten auf Flößen ihre Auswanderung in die Neue Welt begannen: auf der Kinzig bis Kehl und dann auf einem Rheinfloß bis Holland, wo sie sich nach Übersee einschifften. Allein zwischen 1850 und 1855 kehrten insgesamt rund 62.000 Menschen ihrer badischen Heimat den Rücken.

Alles in Offenburg strahlte eine völlig andere Atmosphäre aus als zum Beispiel jene kommerziellen Umzüge, wie sie alljährlich zum 3. Oktober stattfinden. Mitwirkende und Besucher hatten sich zumindest für einige Stunden weit entfernt von den bekannten Bewältigungsritualen, die nicht nur die berüchtigten zwölf Jahre, sondern ganze Kapitel der deutschen Nationalgeschichte überschatten. Die Stadt Offenburg hatte so etwas wie eine Mission zu erfüllen, der sich die Verantwortlichen offenbar auch bewußt waren. In einer Presseerklärung vom 8. September ließen sie verlauten: "Daß eine ernste Sache mit einem Volksfest verbunden werden kann, ist in Deutschland eigentlich verpönt. Historischen Traditionen sind nach 1945 in der Regel Feierstunden und große Reden, monumentale Ausstellungen und Betroffenheit gewidmet. Volkstümlich waren in den vergangenen Jahren allenfalls die Reste der Staufer-Kaiser. Rückbesinnung auf die Revolution von 1848 bietet jetzt die Chance, eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Demokratie in Deutschland einmal anders und dadurch vielleicht nachdrücklicher ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu rücken. (…) Thema und Zeit füllen eine kulturelle Marktlücke. Der größte Teil des Programms ist speziell für das Fest entstanden, und mittlerweile entdeckt die Historienfestszene, die bisher vor allem mittelalterliche Atmosphäre rekonstruierte, daß man den Blick ruhig auch auf andere, uns nähere Epochen richten kann." "Das Freiheitsfest soll (…) kein zusammengekauftes Fest sein, sondern vielmehr ein Fest mit und für die Bevölkerung", hatte der Leiter des Amtes für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit erklärt. – Und es wurde ein echtes Fest des Volkes!

Das mit dem Einrücken von 11.000 preußischen Soldaten in Offenburg am 1. Juli 1849 und der Kapitulation von etwa 5.600 Aufständischen in der Festung Ratstatt am 23. Juli 1849 besiegelte Scheitern der "Badischen Revolution" verleiht dem Gedenken an die Ereignisse in Offenburg vor anderthalb Jahrhunderten natürlich auch einen traurigen, nachdenklichen Beigeschmack.

Nicht wenige Historiker und Politologen sehen in dem Ende des Aufbruchs von 1848 ebenso wie in den anderen "mißglückten Revolutionen" der deutschen Geschichte (den Bauernkriegen, den in den Anfängen steckengebliebenen Bestrebungen der preußischen Reformer oder auch dem 17. Juni 1953) eine Art Grundübel der Nationalgeschichte. Sie pflegen dann Vergleiche mit der angeblich so "erfolgreichen" Französischen Revolution zu ziehen und stellen dem deutschen "Volkscharakter" (ein Begriff, der in anderen Zusammenhängen tunlichst vermieden wird) ein miserables Zeugnis aus.

Geschichte ist von Widersprüchen gezeichnet

Doch Revolutionen sind, wie Hellmut Diwald in seiner "Geschichte der Deutschen" richtig anmerkte, "weder gut noch schlecht, weder lobenswert noch verwerflich. Sie sind in erster Linie der drastische Ausdruck einer politischen, staatlichen, gesellschaftlichen Krise". An dem tatsächlichen Wesen der Geschichte gehen die genannten Vergleiche ohnehin weit vorbei. Es gibt nun einmal kein Kapitel menschlicher Geschichte, das nicht gezeichnet ist von Widersprüchen, von Aspekten, die man aus dem jeweiligen Blickwinkel der eigenen Zeit unter "fortschrittlich", "freiheitlich", "demokratisch", "zukunftsweisend", "moralisch positiv" oder "sozial gerecht" rubrifizieren mag, und gleichzeitig solchen, die als "restaurativ", "diktatorisch", "gewalttätig", "unsozial" oder "böse" gelten.

Das bleibende und gedenkwürdige Erbe der deutschen 1848er ist von dem Schriftsteller Ernst Moritz Arndt in seinen Versen auf den "Mai 1849" eindrucksvoll festgehalten worden: "Hinweg! Die besten Streiter matt,/Die stärksten Arme todeswund./Hinweg! Satt ist und übersatt / Gelebt – es kommt die Sterbestund’.//Weg! Keinen Augenblick gesäumt!/Sonst stirbst du wie ein feiger Hund./Du hast von Kaiserstolz geträumt–/Vergrab’ einstweilen deinen Fund.//Die Besten wissen, wo er liegt./Einst heben sie ihn ans Sonnenlicht./Wir sind geschlagen, nicht besiegt./In solcher Schlacht erliegt man nicht."

Das festliche Geschehen in Offenburg wurde einer Anforderung gerecht, der sich die Deutschen heute stellen müssen: nämlich wieder ihre ganze Geschichte anzunehmen und diese nicht auf einige wenige Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu verkürzen. Insbesondere ist ein Rückruf der jahrzehntelang weitgehend unbeachteten oder gar belächelten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboten, die für die Gegenwart nicht nur in Gestalt ihrer großen städtebaulichen Leistungen von außerordentlicher Bedeutung ist.

Nicht zuletzt erinnert das frohe Treiben des Offenburger "Freiheitsfestes daran, daß für Völker gleiches wie für den einzelnen Menschen gilt: Die Fähigkeit, neben dem alltäglichen, manchmal problembeladenen Leben ab und zu auch richtig feiern zu können, ist ein sicheres Indiz für den jeweiligen Grad an Vitalität und Zukunftsfähigkeit.


 
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