© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
Sport & Fitneß Special: Lokalaugenschein im Fitneßstudio "Muscle-Master"
Wenn alle Nähte platzen
von Ernst Fröhlich

Schweiß rinnt von Anselms schmerzverzerrtem Gesicht. Seine verdrehten Augen quellen fast aus seinem Schädel, so sehr preßt der zum Zerplatzen gespannte Bizeps das Blut in sein Gesicht. Anselm ist Bodybuilder und das Fitneßstudio seine zweite Heimat. Anselm weiß, was gut für seinen Körper ist: Bewegung und richtige Ernährung; so bleibt er fit, und je stärker der Körperbau, desto schwächer wird das weibliche Geschlecht. Ächzend stemmt er wieder die Langhantel nach oben, an der beidseitig je 60 kg aufgesteckt sind. Anselm trainiert jetzt seit anderthalb Jahren, und er ist gut über seinen Körper informiert: Kohlenhydrate sind gut für die Ausdauer, Eiweiße für den Muskelaufbau. Nudelgerichte, Geflügelfleisch und Eier alleine reichen da nicht, um seinen Energieumsatz zu decken, schließlich trainiert er zwischen vier- und sechsmal die Woche jeweils zwei bis fünf Stunden. Es macht ihm gar nicht soviel aus, daß das Fitneßcenter sonntags geschlossen hat, denn er weiß, daß der Bewegungsapparat auch seine Pausen braucht. Von Eiweiß- und Kohlenhydratpräparaten ist er schon lange weg, da wachsen die Muskeln nicht schnell genug. Deshalb operiert er seit kurzem nach einem neuen Trainingsplan. Jetzt knacken wieder die Nähte, und seinen Trainingsbody kann Anselm endlich nicht mehr ohne fremde Hilfe ausziehen.

Es ist noch keine zwei Jahre her, als ihn die anderen Jungs in der Kneipe noch verdroschen haben, weil sie ihren Spaß wollten und er so wehrlos aussah. Heute ist er wegen seiner Ungelenkigkeit zwar wehrloser denn je, doch sieht er nicht mehr so aus wie einer, mit dem man Spaß haben kann; und das macht Anselm Spaß.

Während er dem großen Wandspiegel beweist, welche häßlichen Fratzen er reißen kann, wenn man ihm nur genügend Kilos auflädt, verlagern im Keller die Hausfrauen und Schulmädchen zur Discomusik ihr Übergewicht von einem Bein auf das andere. Sie alle haben die wohlproportionierte Aerobic-Leiterin vor Augen: eine hübsche Frau in den besten Jahren, die so flink und grazil auf und ab springt, daß man als Durchschnittsfrau schon Schweißausbrüche bekommt, wenn die Augen ihren Bewegungen folgen müssen. Sie ist das Alpha und das Omega schönen Körperbaus, und das hautenge Aerobic-Kostüm ist der sinnlose Versuch, dies zu verhüllen. Das Spiegelbild im Umkleideraum hingegen zeigt eher das Zeter und das Mordio bisheriger kulinarischer Ausschweifungen, das keine Ausflüchte gelten läßt.

Anselm hat inzwischen die Lat-Maschine in Angriff genommen. Er klammert sich krampfhaft mit den Beinen unter dem Sitzbügel fest, um das Gewicht überhaupt herunterziehen zu können, denn immerhin trainiert er jetzt schon mit über 100 kg; er selbst wiegt gerade erst 90. "Schmalbrust" und "Spargel" hatten sie ihn immer genannt – jetzt können sie sich alle hinter ihm verstecken! Als die Zähne knirschten, schließt Anselm vorsichtshalber den Mund, bevor die Kronen bersten. Und die Atmung nicht vergessen: Einatmen bei Entlastung, Ausatmen bei Belastung.

Abgerackert sieht er sich anschließend seinem Spiegelbild gegenüber. Ja, er ahnt eine Spur seines Glückes in den abgeschlafften Zügen seines Gesichtes!

Ehrlicher Bärenschweiß durchtränkt sein Träger-T-Shirt in der Brustfalte und am Rücken, als er den Stützgürtel abnimmt, der sein Kreuz entlasten muß. Er stellt sich in Pose – da hinten, am Kapuzenmuskel, da müßte noch etwas getan werden – aber zuerst geht es auf die Schultermaschine!

Anselm weiß, daß er heute wieder einmal tüchtig war, und dafür will er sich belohnen. Er wird sich nach dem Training ins hauseigene Solarium legen, um einen Urlaub in der Dominikanischen Republik vortäuschen zu können. Vorher geht es aber unter die Dusche, damit das Rexona-Man an seinem Luxuskörper zur Geltung gelangen kann. Früher mußte er unter der Dusche immer hin und her hüpfen, um überhaupt naß zu werden – heute kann er den Duschraum nur noch seitlich betreten, so prächtig breit ist er geworden.

Nachdem er sich mit fünf Handtüchern einigermaßen trocken getupft hat, fällt Anselms Blick in die Ecke des Umkleideraums, und er schluckt krampfhaft. Dort steht der unbestechliche Feind: die Waage! Anselm gibt sich einen Ruck und betritt das Ding, die Minute der Wahrheit ist gekommen. 86,3 kg! Anselm schluckt erneut, legt den Kopf schräg und wippt ein bißchen auf und ab. Auf diese Weise gelangt er zu einem kurzzeiligen Spitzenwert von sagenhaften 91,6 Kilogramm! "Knapp 94 Kilo", brummt er zufrieden, denn 2 kg – und das steht in jedem Fitneßratgeber zu lesen – kann das Körpergewicht pro Tag ohne weiteres schwanken. Jetzt kann sich Anselm mit ruhigem Gewissen ins Solarium legen und so richtig faul sein. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag zum Trainieren…


 
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