© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
Lieber eine radikale Linke
Von Werner Olles

Der allgemeine Niveauverlust der Linken ist nicht mehr zu übersehen. Der Rheinische Merkur publizierte unlängst erst eine Bundestagsrede des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher aus dem Jahre 1949. Hört und liest man heute Reden von Parteichef Oskar Lafontaine, führt der Vergleich mit der wortgewaltigen Eloquenz und geschliffenen Diktion Schumachers zu tiefen Depressionen. Die faszinierende Kraft der politischen Leidenschaft, die aus jedem Satz Schumachers, aber auch seiner parlamentarischen Gegner Adenauer, Dehler oder des Kommunisten Renner sprach, und die Trivialität und Mediokrität der führenden Neo-Sozialdemokraten, das ist in der Tat wie Feuer und Wasser.

"Millionen hassen Kohl" stand auf den Transparenten geschrieben, welche die Jusos kürzlich auf dem Parteitag der SPD stolz und ungerügt vorzeigten. Man muß weiß Gott kein Anhänger dieses Bundeskanzlers sein, um ob der Wortwahl gelinde zu erschrecken. Darf man in einer Demokratie so tief in das berühmte "Wörterbuch des Unmenschen" greifen und dem politischen Gegner seine Ehre absprechen? War denn von den reiferen Jahrgängen der Sozialdemokratie niemand bereit, diesem unwürdigen Treiben Einhalt zu gebieten? Die politische Linke hat in Deutschland inzwischen offenbar jedes Maß verloren. Der Amoklauf ihrer radikalen und extremistischen Teile hat seinen Höhepunkt gewiß noch längst nicht erreicht, aber er läßt für 1998, das Jahr des Bundestagswahlkampfes bereits jetzt Böses ahnen!

Natürlich wünscht man sich gerade als alter Renegat eine intelligente – meinetwegen sogar rabiate – Linke. Davon sind die ressentimentgeladenen antifaschistischen Kaffeekränzchen und Juso-Gemeinden meilenweit entfernt. Diese Linke ist im Gegenteil zutiefst reaktionär, ihr einstmals so steiler Utopieanspruch zum Spießbürgerniveau verkommen. Ihre Schwarzweiß-Schraffuren werden heute bereits in jeder Sonderschulklasse willig nachgeplappert. Zwar ist es köstlich, ihre Implosion zu beobachten, ihr permanenter Abstieg von Klassenkämpfern zu Sinn- und Moralstiftern der nekrophilen spätbürgerlichen Gesellschaft ist jedoch weniger amüsant.

Wer als einziges Ziel nur noch die "Expansion des eigenen Lebensstils" (Rudolf Bahro) kennt, der will und kann Politik höchstens noch simulieren. Und da Erbaulichkeit nun einmal der Tod allen politischen Denkens ist, ist der linke Marsch ins politische Irgendwie und geistige Nirgendwo wohl auch nicht mehr aufzuhalten. Vor Schadenfreude sei jedoch gewarnt: Schon Johann Nestroy wußte, daß der "Fortschritt das an sich hat, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist".


 
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