© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
Aufschwung Fernost: Die Staaten in Südostasien erleben ungebremstes Wachstum
Tiefe Verachtung für den Westen

Von Franz Uhle-Wettler

In den vergangenen Wochen haben einige Ereignisse den Blick auf Südostasien und besonders auf die vier oder fünf "jungen" oder "kleinen Tiger" dort gelenkt. Vor allem in Indonesien wüten große Waldbrände. Die thailändische Währung, der Baht, ist abgestürzt und hat andere Währungen mitgerissen; der Ringgit Malaysias hat fast dreißig Prozent seines Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Der schwelende Streit um die ehemalige portugiesische Kolonie Ost-Timor tritt dazu. Die Reaktion der westlichen Medien war unterschiedlich. Oft war sie von Abneigung und damit Verständnislosigkeit sowie auch Schadenfreude gekennzeichnet. Stets wurde aber zurecht gefragt, ob der wirtschaftliche Aufstieg der Region und insbesondere der Tigerstaaten sowie deren Versuch, sich aus westlicher Dominanz zu befreien, gescheitert ist.

Die Tigerstaaten haben untereinander nur sehr wenig gemein. Zugegeben: Sie alle sind längst von Entwicklungsländern zu Schwellenländern geworden, und meist haben sie auch die Schwelle zum Industriestaat überschritten. Doch sonst zeigt jeder Blick große Unterschiede. Hongkong, territorial ein Winzling, steht neben dem riesigen Indonesien. Singapur, vom großen Malaysia nur durch einen zwei Kilometer breiten Meeresarm getrennt, ist kleiner als unser Bundesland Hamburg. Weitere bedeutende Unterschiede zeigt jede Betrachtung des Klimas, der Pflanzen- und Tierwelt oder der Bodenschätze. Besonders bedeutsam sind die Unterschiede der Regierungssysteme. "Autoritäre" Demokratien, also Staaten mit einer gewählten, aber sehr starken Regierung stehen neben Hongkong, das von einer fernen Kolonialmacht ohne Beteiligung der Bevölkerung regiert wurde und nun Teil Chinas ist. Es gibt Staaten, die kaum die Diktatur einer Partei überwunden haben (Taiwan, Südkorea) oder deren Regierungssystem an die Scheichtümer der Golfregion erinnert (Brunei).

Viele Staaten der Region sind Republiken. Aber Thailand ist ein altes Königreich. Malaysia ist ein neues Königreich und liefert zudem damit ein Beispiel bemerkenswerter Klugheit, wenn nicht sogar Weisheit: Als der Staat aus Kolonialbesitz gegründet wurde, hatten die Fürsten in ihren Stammesgebieten noch großen Einfluß. Also schuf man das Amt eines Königs und läßt es in fünfjährigem Wechsel unter den Fürsten rotieren – einzigartig in der Welt. Man wird auch erwähnen müssen, daß die Regierungen mancher Staaten tief in Korruption und Vetternwirtschaft verstrickt sind, während Singapur und wohl auch Malaysia wenigstens von Korruption freier sind als die Bundesrepublik.

Viele Regierungssysteme tragen autoritäre Züge

Weiterhin zeigt schon der erste Blick, daß viele der Tigerstaaten und der sonstigen südostasiatischen Staaten keine Bevölkerung besitzen, die durch Religion, Geschichte oder wenigstens durch die Sprache geeint ist. Das Extrembeispiel ist Singapur. Dort mischen sich Chinesen aus allen Provinzen Chinas, Inder aus allen Teilen Indiens, Europäer und die einheimischen Malaien, zudem Christen, Moslems, Juden, Buddhisten und Hindus. Hier liegt die Ursache für die autoritären Züge vieler Regierungssysteme der Region. Wer in dieses Gemisch religiöse, ethnische oder gar rassistische Schlagworte wirft, der zündelt und legt die Lunte an ein Pulverfaß. Deshalb schreiten die Regierungen hart, oft sehr hart, ein. Das findet in Europa dann ein wenig freundliches Echo. Doch die europäische Kritik klingt überheblich vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte oder den heutigen Ereignissen im ehemaligen Jugoslawien. Zudem gibt es auch auf diesem Gebiet manch ein Beispiel bemerkenswerter Weisheit zu berichten. So aus Singapur. Der von Chinesen dominierte Staat liegt inmitten einer Welt von Malaien und hat selbst eine malaiische Minderheit. Um inneren Frieden zu fördern und nach außen weniger zu provozieren, machten die Chinesen (76 Prozent) und die Inder (etwa 10 Prozent) Malaiisch zur Sprache der Nationalhymne und zur Kommandosprache der Armee.

Kurzum: "Die" Tigerstaaten gibt es ebenso wenig wie ein einheitliches Südostasien. Diese Begriffe fassen Staaten zusammen, die nur eines gemeinsam haben: einen dem längst verblichenen deutschen Wirtschaftswunder vergleichbaren Aufstieg aus der Misere der Dritten Welt.

Allerdings war dieser Aufstieg nach Ansicht westlicher Kritiker von viel Negativem begleitet. Tatsächlich wurden in fast allen jenen Staaten Schwerverbrecher noch mit dem Tod bestraft. Wer mit Drogen den Tod verkauft, muß ebenfalls sterben. In einigen Staaten werden Vergewaltiger und sogar jugendliche Randalierer mit Prügel bestraft. Spätestens wenn das einen europäischen oder amerikanischen Halbstarken erwischt, wird im Westen Kritik laut.

Allerdings: Sogar in Millionenstädten wie Kuala Lumpur oder Singapur kann ein junges Mädchen nachts allein nach Hause mit weniger Angst gehen als in westlichen Städten. Wichtiger noch ist, daß fast alle Staaten Südostasiens die Armut besiegt haben oder dabei rapide Fortschritte machen. In Hongkong, Singapur, Südkorea, Malaysia und Singapur hat das Pro-Kopf-Einkommen längst europäisches Niveau erreicht. Das hat Dutzende von Millionen aus menschenunwürdigem Elend erlöst. Erstaunlich, vielleicht beschämend ist, wie wenig das die westlichen Menschenrechtler würdigen. Als Vorbild gilt eher Indien, das sich (angeblich?) besser am westlichen Demokratiebild orientiert. Dabei wird wenig berücksichtigt, daß dort nach wie vor Dutzende von Millionen Gefangene eines hoffnungslosen Elends und eines fast ausweglosen Kastenwesens sind.

Kultur und Mentalität sind Motor der Entwicklung

Natürlich ist die Frage wichtig, welches die Ursachen des Erfolges der "jungen Tiger" und derjenigen Staaten sind, die ihnen dichtauf folgen. Damit ist zugleich die Frage gestellt, ob diese Erfolge über die gegenwärtige Krise hinausreichen und andauern werden.

Geht man dieser Frage nach, so fällt bald ins Auge, daß der Erfolg dort errungen wurde, wo die Bevölkerung chinesisch ist (Taiwan, Hongkong), wo die eigene Kultur eng mit der chinesischen verwoben ist (Südkorea), wo die Chinesen dominieren (Singapur) oder wo eine chinesische Minderheit Motor des wirtschaftlichen Aufstiegs ist (Malaysia, Indonesien, wohl auch Vietnam, partiell auch Thailand).

Die enge Verbindung zwischen den Chinesen und dem Aufstieg aus dem Elend kann kein Zufall sein, zumal die Leistungen der "Asiatics", der Einwanderer aus Asien, auch in den USA Gegenstand vielfältiger bewundernder Kommentare sind. Rassistische Erklärungen wären, wie überall, auch hier dümmlich. Auch die Soziologie kann nichts erklären. Taiwan ist lange von geflohenen Festlandschinesen regiert worden – und die entstammten meist der Oberschicht. Hingegen waren die Chinesen der südostasiatischen Staaten meist Abkömmlinge von Kulis.

Mithin muß man wohl annehmen, daß die Kultur und die Mentalität der Chinesen Motor der Entwicklung gewesen ist und die Entwicklung gegenwärtig noch vorantreibt. Im Zentrum der chinesischen Kultur stehen universelle Werte: persönliche Ehre, die Ehre der Familie, Pflichten gegenüber der Familie und auch größeren Gemeinschaften. Zusätzlich gilt hoch ein auf Fleiß, Pflichterfüllung und Disziplin gegründetes Arbeitsethos. Viele Gespräche zeigen, daß die Gefährdung dieser Werte durch den Individualismus der modernen Industriegesellschaft in Südostasien durchaus erkannt wird. So schießen dort die Verkünder eines "Asianismus" ins Kraut: Lee Kwan Yew, der große alte Mann von Singapur, Dr. Mahathir, seit 16 Jahren Premierminister von Malaysia, Ishihara Shintaro sowie Hashimoto Ryutaro, Premier von Japan, Kim Dae Jung aus Korea sowie viele andere verkünden einen "asiatischen" Weg, sogar ein "asiatisches" Jahrhundert und behaupten die Einzigartigkeit der "asiatischen" Werte.

Alle diesen "asiatischen" Werte hatten bis vor wenigen Jahrzehnten auch im Westen hohen Wert. Sie haben Deutschland aus dem Elend von 1945 und manchen Staat der Dritten Welt aus seinem Elend herausgeführt. Diese Werte gehören wohl zu den Grundpfeilern jeder Gemeinschaft. Zudem gewinnt nur aus diesen Werten ein Staat die Kraft und das moralische Recht, einen überbordenden, gar frechen Individualismus regulierend an den Zügel zu stellen.

Dem Westen wird uferloser Hedonismus vorgehalten

In Südostasien greift längst die Überzeugung um sich, der Westen habe diese Werte aufgegeben. Daraus ergibt sich eine Verachtung des Westens, die wie ein Steppenbrand um sich greift. Man wirft dem Westen vor, er huldige einem uferlosen Hedonismus, einer Toleranz, die nur noch Standpunktlosigkeit verdeckt, und diene einer Selbstverwirklichung, die nur den Egoismus zur Moral erhebt und so ins wirtschaftliche Chaos führt.

So ergibt sich die Antwort nach der Dauerhaftigkeit des Erfolgs der Tigerstaaten und der "Tigerjungen", die ihnen in Südostasien dichtauf folgen. Sie werden die gegenwärtige erste schwere Krise meistern, wenn sie die Ursache ihres Erfolges, ihr überliefertes gemeinschaftsbezogenes Wertesystem bewahren können. Parallel hierzu wird mancher europäischer Staat in den dritten und vierten Rang zurücksinken, wenn er nicht jene Haltung wiedergewinnt, der Deutschland seinen Aufstieg nach 1945 verdankt.


 
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