© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Die Verweigerung der Kulturnation
von Andreas Mölzer

Die deutsche Einheit, von der Johann Gottlieb Fichte oder Ernst Moritz Arndt träumten, in der edle Geister für Freiheit und hohe Kultur stritten, ist historische Reminiszenz und romantisches Relikt.

Angesichts dieser Gegebenheit ist der alte, seit 1945 kriminalisierte Traum vom staatlichen Anschluß Österreichs an Deutschland hinderlich, weil sinnlos und von der europäischen Integration überholt. Ebenso hinfällig ist aber auch das im nach wie vor im Verfassungsrang stehenden Staatsvertrag postulierte Anschlußverbot und das Verbot der Propaganda für diesen Anschluß.

Ebenso sinnlos sind allerdings auch die krampfhaften österreichischen Abgrenzungsversuche gegenüber der größeren Bundesrepublik, die nach 1945 zur Untermauerung einer eigenständigen österreichisch-nationalen Identität unternommen wurden. Einerseits sind die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich Teil desselben supranationalen Verbandes, eben der Europäischen Union, und nehmen an einer Form der europäischen Einigung teil, die zwar ständig vom Scheitern bedroht, aber dennoch nicht rückgängig zu machen ist. Andererseits gibt sich gerade das neuvereinigte Klein-Deutschland "saturiert" (frei nach Otto von Bismarck). Geradezu verdächtig ist man in Bonn bemüht, auf dem internationalen Parkett jeglichen Anschein der Bildung eines "deutschen Blocks" mit Österreich zu vermeiden, geschweige denn darüber hinaus Gehendes vermuten zu lassen. Österreich steht also völlig unangefochten in seiner staatlichen Eigenständigkeit und Existenz neben der großen Bundesrepublik im Rahmen der Europäischen Union.

Andererseits teilt Österreich die deutschen Entwicklungen, inbesondere auch die politischen und kulturellen Fehlentwicklungen (Umerziehung, Tugendterror der political correctness, Massenimigration), in einer beängstigenden Art und Weise und Intensität, die es in der vergangenen mitteleuropäischen Geschichte kaum gegeben hat. Österreich hinkte diesen Entwicklungen jahrzehntelang nach, wohl auch deshalb, weil man sich nach 1945 aus allzu opportunistischen Gründen als "erstes Opfer des Hitlerfaschismus" aus der deutschen Geschichte und Verantwortung davonstahl. Spätestens seit der Anti-Waldheim-Kampagne aber hat ein geradezu hektischer Nachholprozeß stattgefunden.

Neben diesen großen Problemen, die Österreich und die Bundesrepublik gleichermaßen zu bewältigen haben, ist es einfach Tatsache, daß es innerhalb des Sprachraumes in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Homogenisierung durch Nivellierung gegeben hat. Die elektronischen Medien haben dazu geführt, daß Österreich so etwas wie eine bundesdeutsche Medienkolonie geworden ist.

Wir stehen heute vor der Tatsache, daß allein die bundesdeutschen Privatfernsehstationen, verbreitet über Satellit und Kabel, in bezug auf Vokabular und Sprachmelodie Österreich voll in den Einheitsbrei von RTL-Werbe-"Angleutsch" hineingezogen hatten. Es ist nicht die Sprachgemeinschaft Goethes und Schillers, die hier vereinheitlichend wirkt, es ist nicht der Stil eines Karl Marx im "Kapital", und es sind nicht die Lieder eines Freiligrath, die hier kulturnationale Einheit schaffen, sondern es sind triviale Fernsehserien und die fraktale Kommunikation der Werbespots, die die deutsche Sprachnation zwischen Schleswig-Holstein und Südtirol prägen. Sicher ist aber, daß diese nach unten nivellierte Kulturnation tatsächlich an die 100 Millionen deutschsprachige Menschen umfaßt, während die deutsche Einheit des Jahres 1848 weitgehend auf Bildungsschichten, Akademiker, Bürger und Studenten, einige zehntausend Menschen wahrscheinlich, beschränkt blieb.

Überhaupt ist es die Kommunikation, die Österreich zunehmend unlösbar an den übrigen deutschen Sprachraum bindet. Auch in den Tagen des "global village" ist der Mensch primär monolingual, also muttersprachlich, gebunden. Und die krampfhaften Hinweise, die Österreicher hätten doch wesentlich mehr mit Prag, Budapest und Triest zu tun als mit Kiel und Rostock, stimmen einfach nicht. Kommunizieren, sich als Mensch kulturell und auch sozioökonomisch verständigen, können die Österreicher sicher überall dort, wo die deutsche Sprache verstanden wird. Und natürlich gehen Österreicher primär ins benachbarte Deutschland, um fern der Heimat einen Broterwerb zu finden und nicht nach Turin oder Lemberg. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß der Sprachraum auch den Aktionsradius der meisten Menschen für ihre ökonomische und soziale Entfaltung bildet. Gerade die europäische Integration bildet aber auch die Möglichkeit, jenseits der unmittelbaren, administrativ wirksamen Staatsgrenzen in diesem Aktionsradius tätig zu werden und das eigene Leben zu gestalten.

Auch jene Kräfte, die geglaubt haben, der EU-Beitritt werde eine Verbreiterung der Wirtschaftsbeziehungen Österreichs auf den gesamten europäischen Bereich, von Portugal bis Griechenland bringen, um von der allzu einseitigen Bindung an die Bundesrepublik loszukommen, haben sich geirrt. Wenn heute österreichische Unternehmen von Billa über Thonet bis zu Anker-Brot aufgekauft werden, sind es zumeist deutsche Konzerne, die als Käufer auftreten. Wenn die österreichische Bankenlandschaft sich zunehmend vom Staatseinfluß – offenbar viel zu langsam – befreit, sind es deutsche Bankgruppen, die sich beteiligen. Und selbstverständlich bleiben der Tourismus und die Handelsbilanz Faktoren, die das Land weiterhin (und seit dem EU-Beitritt zunehmend) an die Bundesrepublik Deutschland binden. Von der währungspolitischen Anbindung des Schillings an die D-Mark, die sich allenfalls in einer Hartwährungszone innerhalb des Euro fortsetzen könnte, gar nicht zu sprechen.

Die ökonomische Kraft der Fakten, und zwar sowohl der massenpsychologischen, kulturellen und kommunikatorischen als auch die der ökonomischen und fiskalischen, zeigen also eindeutig, daß Österreich heute stärker mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist als je zuvor in seiner Geschichte. Eine Tatsache, die man unter Umständen aus den verschiedensten Gründen ablehnen, ja sogar für gefährlich halten kann, die zu leugnen aber schlicht Realitätsverlust bedeuten
würde.

Als im Frühjahr des Jahres das bundesdeutsche Staatsoberhaupt Roman Herzog hochoffiziell in Wien weilte, hat die österreichische Öffentlichkeit die erwartete Höflichkeit des Gastes – "Es gibt Tage, an denen ich mit Neid nach Österreich hinüberschaue" – zur Kenntnis genommen und ihrerseits entsprechend diplomatisch reagiert.

Daß Aversionen gegen die "Piefkes" die einzige Form von Xenophobie sind, die hierzulande auch bei zeitgeistgerechten Gutmenschen als durchaus sozialadäquat gilt, durfte man für einige Tage vergessen. Wohl deshalb, weil Roman Herzog das deutsch-österreichische Verhältnis so taktvoll umschrieb: "Deutsche und Österreicher sind in ihrer Geschichte, in ihrer Kultur und Lebensart nicht allein daheim, sondern gemeinsam zu Hause", um im gleichen Atemzug davor zu warnen, die "geistigen Wurzeln mit nationalem Pathos zu überfrachten".

Damit hat er natürlich den Geschmack seiner österreichischen Zuhörer getroffen: Nichts würde man innerhalb der rot-weiß-roten Grenzpfähle weniger goutieren als "nationales Pathos", allzumal ja laut dem verblichenen Bruno Kreisky "national in Österreich noch immer deutschnational bedeutet".

Herzogs vorsichtige Formulierung, daß Deutsche und Österreicher historisch und soziokulturell "gemeinsam zu Hause" seien (gemeint ist wohl das Haus der deutschen Geschichte), ist indes einigermaßen zutreffend. Wesentlich ehrlicher jedenfalls als jene typisch österreichischen Geiststreicheleien, mit denen man um den heißen Brei herumzureden pflegt: Es seien "verfreundtete Nachbarn", meint man, um anzudeuten, daß eine spezifisch österreichisch-nationale Identität sich primär durch Abgrenzung gegenüber der deutschen definiert. Und jeder Halbgebildete vermag Karl Kraus zu zitieren, der bekanntlich gemeint hat, Österreicher und Deutsche würden "durch die gemeinsame Sprache getrennt".

Dabei ist in unseren Tagen nichts so verräterisch einheitlich zwischen Kiel und Klagenfurt wie die heuchlerische, gemeinsame Sprache der political correctness, die die einzig akzeptable Identität der Menschen des deutschen Kulturraums in Pflicht-Antifaschismus und perpetuierter Vergangenheitsbewältigung zu erkennen vermag.

Die Realitäten seit der deutschen Wiedervereinigung des Jahres 1989 und dem österreichischen EU-Beitritt sind allerdings völlig veränderte: Österreich wird nunmehr von der EU-Führungsmacht Deutschland marginalisiert. Kein Wunder, daß manche fürchten, als 17. deutsches Bundesland so nebenbei "abgewickelt" zu werden. Verspäteter Austrochauvinismus und neudeutsche Herablassung sind da wenig hilfreich.

Dabei wäre die Notwendigkeit für ein unverkrampftes deutsch-österreichisches Verhältnis größer denn je.

Daher sollte man die Verleugnung des österreichischen Anteils an der deutschen Geschichte durch einen neuen Konsens ersetzen, wie er nüchtern und unsentimental etwa im neuen, heftig diskutierten Programmvorschlag der Freiheitlichen formuliert ist: "Die deutsche Mehrheitsbevölkerung wird gegenüber den zu schützenden ethnischen Minderheiten vom Gesetz denklogisch vorausgesetzt." Etwas, was nicht nur in einem Parteiprogramm, sondern sehr wohl auch in der Bundesverfassung einer selbstbewußten österreichischen Republik stehen könnte.


 
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