© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten - Erinnerungen
Einkaufen mit Hermann Höcherl
von Peter Boßdorf

Kein anderer Bundespräsident war so sexy wie er, aber das allein wäre zu wenig, um dem Phänomen gerecht zu werden: Er stammt aus einer respektablen Familie mit einer Koryphäenvielzahl wie bei den Manns, aber weit weniger skandalträchtig als diese. Er hat ein sicheres Auftreten und weiß, seine Bildungsfrüchte gut anzubringen. Seine Gemahlin ist attraktiv und blitzgescheit, die Kinder allesamt wohlgeraten – kurzum, bei ihm, bei Richard von Weizsäcker kommt wie bei keinem zweiten all das zusammen, was einen Mitbürger zum Staatsoberhaupt prädestiniert. Schwer imponiert hat ihm offenbar die herzenswarme Verehrung, die dem würrtembergischen König Wilhelm II. entgegengebracht wurde: Sie seien zwar Republikaner, sollen die Sozialdemokraten anläßlich des 25. Thronjubiläums dieses Regenten im Jahr 1916 erklärt haben, aber wenn es soweit sei, würden sie den König zum Präsidenten wählen. Kein Wunder, daß sich Großvater Weizsäcker von ihm kurz vor Toreschluß das Adelsprädikat verhängen ließ. Von Enkel Richard könnte man meinen, daß er irgendwie in die Fußstapfen dieses Monarchen getreten sei, in dessen Stuttgarter Schloß er, allerdings nach Toreschluß, immerhin auch geboren wurde: Wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik sah das deutsche Volk voller Anhänglichkeit und Wehmut zu, als er im Jahr 1994 nach nur zehn Jahren aus dem Amt des Bundespräsidenten schied. Sicher hätte man stillschweigend einen Verfassungsbruch in Kauf genommen, um ihn noch länger dort zu halten, hat es aber dann doch nicht versucht.

Eigentlich war über Richard von Weizsäcker bereits mit dem das gesamte Geschlecht porträtierenden Opus magnum von Martin Wein aus dem Jahr 1988 alles gesagt, allenfalls einige Nachträge wären vorstellbar. Es gibt für das Massenpublikum die preiswerte Rowohlt-Bildmonographie – nur wenigen Menschen wird diese Ehre noch zu Lebzeiten zuteil. Und nun gibt es auch noch "Vier Zeiten", ein Buch, in dem Richard von Weizsäcker das, was über ihn bereits gesagt wurde, noch einmal mit eigenen Worten zusammenfaßt. Was hätte er auch anderes tun sollen, er konnte sein Leben ja nicht eigens für eine Autobiographie neu zurechtschneidern, geschweige denn neu leben! Dabei wäre das gar keine schlechte Idee gewesen, hat sich in diesem Leben doch, wenn man bedenkt, was diesem Mann alles zugetraut wird, erstaunlich wenig ereignet. Auch der Titel des Buches kann da nicht darüber hinwegtäuschen: "Vier Zeiten", davon drei demokratische, die somit einen uneinholbaren Vorsprung erzielt haben – das klingt zwar nach sehr viel, ist aber nicht mehr als ein Sammelsurium aus einer Unmenge von zugegebenermaßen hochkarätigen Begegnungen und Beobachtungen eines Flaneurs durch die Weltenwenden. Wenn man schon einmal Bundespräsident ist, kann man es nicht mehr vermeiden, alles kennenzulernen, was Rang und Namen hat, das fliegt einem dann so zu. Heute ist es der amerikanische Präsident, der mit einem am Brandenburger Tor lächelt, morgen schickt Václav Havel seinen neuesten Essay (mit handschriftlicher Widmung) und übermorgen fährt man mit Hans Magnus Enzensberger nach Mexiko, um mal wieder bei Octavio Paz vorbeizuschauen.

Aber was geschieht schon in diesen Begegnungen, außer daß man für die Kameras posiert, worüber redet man in diesen halben Stunden? Über die Herausforderungen des nächsten Jahrtausends, möchte man natürlich meinen, oder wenigstens über die Hauptlinien der Äonen, die bereits hinter uns liegen. Hier möchte man vom Autor mehr erfahren, hierzu könnte er doch ausnahmsweise auch einmal etwas sagen, aber er läßt den Leser im Stich. Stattdessen findet dieser sehr persönliche und mit Fotos belegte Resümees, die sich wie Nachrufe lesen: Mit dem Hans Jochen Vogel kam er gut aus, mit Franz Josef Strauß ebenfalls, mit Helmut Schmidt sowieso und selbst mit Heinrich Lummer war es so ziemlich im Lot – und und und… Wo Richard von Weizsäcker einem wichtigen Menschen aus Politik, Kultur, Kirche, Wissenschaft und Wirtschaft nicht persönlich begegnete, weil dieser, wie zum Beispiel Platon, schon lange tot ist, oder sich partout keine Gelegenheit erzwingen ließ, da hat man von dieser Prominenz wenigstens etwas gelesen, ist in einem Raum gewesen, den auch sie betreten hat, oder zitiert sie einfach aus heiterem Himmel – Hauptsache, das Personenregister wird voller und voller und liest sich schlußendlich wie zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte im Überblick.

Was Richard von Weizsäcker über die Geschichte der alten und der neuen Bundespepublik zu berichten weiß, ist klinisch überraschungsfrei, ganz so, als hätte er diese gar nicht miterlebt, sondern sie nur gelesen und wäre, wie einst Forrest Gump, bloß in sie hinein montiert worden. So entsteht ein eigentümlicher Blick hinter die Kulissen, als hätten diese nichts zu verbergen gehabt außer den Gefühlen, die Richard von Weizsäcker gerade hegte, die man wiederum aber leicht erraten konnte, so gütig waren sie. Allenfalls einige historische Details werden nun erhellt: daß sein Sohn Robert im Schach gegen Garri Kasparow ein Remis erreichte, daß Lord Carrington ihm "Zinnsoldaten der Grenadier Guard schenkte, seines Truppenteils, der bei Waterloo zusammen mit meinem Potsdamer Traditionsregiment 1815 Napoleon geschlagen hatte", daß er mit Hermann Höcherl vergeblich versucht hat, bei Brooks Brothers in New York etwas Passendes zum Anziehen für diesen zu finden – was, bleibt leider unklar.

Etwas hemdsärmeliger sind da schon die Notate über die ersten beiden Zeiten (Weimar und Drittreich – mit kleinen Exkursen in seine eigene Vorgeschichte): Er war jung, er wußte noch nicht viel, ahnte allenfalls eine Menge, das Leben reduziert sich im Rückblick auf eine Aneinanderreihung von Vorgängen oder auch bloß Stimmungen, von denen unklar ist, warum ausgerechnet sie erinnert werden – aus der Familie, aus Schule, Arbeitsdienst und Wehrmacht.

Hier zeigt sich der Autor oftmals als begnadeter und gnadenloser Stilist, der die Betulichkeit des Erzählten durch den Tonfall der Erzählung zu unterstreichen weiß. Man erfährt, wie er sich gegen drei ältere Geschwister behauptete und sein Vater ihn ob seiner Verschlagenheit "Lümple", eine Bekannte wegen seiner Beredsamkeit aber "Kikeriki" nannte. Man hört von den Spielen, die im Elternhaus gespielt wurden (Mah-Jongg, später auch Bridge). Und vor allem ist endlich schwarz auf weiß zu lesen, wann und wo sein Vater Ernst mit wem Verbindung aufnahm, der später am 20. Juli dabei war – oft wurden diese Kontakte vorausschauend schon in den 20er Jahren geknüpft! Ernst von Weizsäcker war ein Seher – man wußte vieles über ihn, nur das bislang nicht. Und wie der konspiriert hat! 1933 blieb er doch nur im Diplomatischen Dienst, um das Terrain der Außenpolitik nicht den Nationalsozialisten zu überlassen. Deshalb hat er ja auch die Ernennung zum Staatssekretär unter Neurath abgelehnt und erst unter Ribbentrop angenommen. Eigentlich war er ja ein nicht eingeschriebenes Mitglied des Verschwörerzirkels…

Dies ist das konzeptionelle Problem der ersten beiden Abschnitte: daß offen bleibt, ob nun Ernst oder Richard der Protagonist ist. Phasenweise könnte der Leser versucht sein, den Vater gegen den Sohn in Schutz zu nehmen. Gegen solche Anwandlungen helfen die Erinnerungen, die Ernst von Weizsäcker selbst verfaßt hat. Allerdings wurden auch diese von Richard herausgegeben.

 

Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen, Siedler Verlag, Berlin 1997, 480 Seiten, geb., 49,80 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen