© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Robert Bly: Die Kindliche Gesellschaft, Über die Weigerung erwachsen zu werden
Daumenlutschen in der Spaß-Gesellschaft
von Werner Olles

Robert Bly, amerikanischer Lyriker, Essayist und Neruda- und Rilke-Übersetzer, ist ein Geschichtenerzähler von Rang. Dies hat er nicht zuletzt mit seiner Interpretation des Grimmschen Märchens "Eisenhans" vor sieben Jahren bewiesen. Seitdem ist Bly in der Männerbewegung – und nicht nur dort – als scharfzüngiger Kulturkritiker gefürchtet. Gewiß sind seine provokanten Thesen nicht unumstritten, aber selbst dem ehrwürdigen FAZ-Feuilleton fällt es offenbar schwer, den Autor als "politisch heimatlosen Reaktionär" einfach in die rechte Ecke abzuschieben.

Allerdings sind seine Aussagen auch kaum widerlegbar, und nur echte Faktenhuber und wahre Kritikaster können es einem Schriftsteller übel nehmen, daß seine "Alltagsbetrachtungen so fürchterlich plausibel zu sein scheinen". Dabei fällt Blys Kritik an der permissiven Massengesellschaft mit ihren unleugbaren Tendenzen der Gleichmacherei, des Autoritäts- und Werteverlustes und des himmelschreienden Konsumterrors noch vergleichsweise dezent aus. Und wenn der Autor seine Trauer über den Verlust der paternalistischen Gesellschaft mit ihren klaren Hierarchien und der Preisgabe des abendländisch-christlichen Triebkontrollsystems zugunsten einer verfrühten und zudem völlig überzogenen Sexualisierung fast aller Lebensbereiche artikuliert, dann wird dem vielleicht nicht jeder zustimmen können; dennoch ist auch diese Einschätzung weniger anklägerisch als von ehrlichem Bedauern geprägt.

Bly macht diese vaterlose Gesellschaft verantwortlich für das Verschwinden der einfachsten mitmenschlichen Umgangsformen. In der "sinnentleerten Konsumgesellschaft" sieht er den wahren Schuldigen für die Zerstörung der Spiritualität und das Heraufziehen einer "Junk-Kultur", für die solche Kunstfiguren wie Michael Jackson oder Madonna repräsentativ sind. Niemand könne mehr in dieser von nur bedingt alphabetisierten Halberwachsenen beherrschten Spaß-Gesellschaft "authentisch" leben. Selbst der kreativste linke Systemveränderer hätte es sich vor dreißig Jahren nicht träumen lassen, daß die Entstehung einer neuen Kultur der Subjektivität eine derartige Verlusterfahrung mit sich bringen würde.

Es ist vor allem diese Einschätzung, die Bly von seinen Kritikern als "selektive Beobachtungsgabe" und "wohlgepflegte Ressentiments" nicht verziehen wird. Dabei machen sie sich allerdings nicht einmal die Mühe zu fragen, was der Autor seinen zahlreichen Lesern – immerhin stand das Buch fast ein Vierteljahr in der Bestsellerliste der New York Times auf Platz eins – wirklich vermitteln wollte. Es ist nämlich keinesfalls Blys Anliegen, die Moderne schlechthin als pathologischen Prozeß zu desavouieren. Er bemerkt nur sehr bewußt ihre Doppeldeutigkeit, auf der einen Seite zum Beispiel die wirtschaftliche Unsicherheit, andererseits die Konsumgier und Habsucht der in einem ewigen Jugendlichkeitskult gefangenen und von Rivalität und Neid zerfressenen Massenmenschen. Daß die Moderne mit diesem Wahnsinn sympathisiert, ja ihn nach Kräften fördert, weil er ihr hilft, die Vergangenheit zu überwinden, steht für den Autor fest.

Bly nimmt bei seiner Überzeugungsarbeit Zuflucht bei Konrad Lorenz und Sigmund Freud, er verweist auf die westliche Hirnforschung und die visionären Erfahrungen der islamischen Mystiker. Er konstatiert eine gewisse geistige Zerrüttung, speziell der heutigen westlichen Gesellschaften. Die Krankheitsbilder dieser kollektiven Schizophrenie, die den Tiefstpunkt der moralischen Entwicklung darstellt, heißen Enttraditionalisierung, Entwurzelung, Entfremdung, entfesselte Individualität, ungezügelter Egoismus, Haltlosigkeit in Wertfragen und Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Entwertung und Nivellierung sieht der Autor unaufhaltsam fortschreiten. Gleichzeitig gibt es aber eine Gegenbewegung, die vor allem in den USA nicht ohne Erfolg zu sein scheint. Einst als Selbsthilfebewegung gedacht, sind die Kommunitarier inzwischen die wohl am besten organisierte und am weitesten verbreitete Bürgerbewegung. Ihnen gilt auch Blys Sympathie. So plädiert er für Gegen-Mythen zur Moderne und für das Ritual als evokatives Symbolsystem, das wieder mit Leben gefüllt werden muß.

Die Suche nach Konsistenz, Sinn und innerer Übereinstimmung kann wohl nur gelingen über Deregulierung und Dezentralisation, die der infantilisierten Moderne als zu altmodisch, zu langsam und zu wenig flexibel und plural erscheinen. In einer vom Rausch der Geschwindigkeit erfaßten Welt kann der Mensch aber letztlich nur überleben, wenn er seine natürliche Einstellung, seine Spontanität und auch seine Unschuld wiederentdeckt. Erst wenn er wieder die Dinge sieht und nicht nur über die Eindrücke, die die Dinge in ihm hervorrufen, reflektiert, wenn er wieder die Welt sieht und nicht nur die Repräsentanten der gesehenen Welt und wenn er nicht mehr seine eigene Wahrnehmung beobachtet, sondern als Gestalter aktiv wieder an seinem Schicksalsweg teilnimmt, wird die beschädigte menschliche Seele wieder zu wahrer Leidenschaft fähig sein.

Manchem mag solch bildhaftes Denken arg naiv erscheinen, doch sind dümmliche Parolen wie "Die Kinder an die Macht!", die heute selbst von Politikern und Intellektuellen verbreitet werden, nicht viel verantwortungsloser? Die Zukunftsversion des Robert Bly fußt auf den Theorien der soziokulturellen Dekadenz eines Vico und Morels psychopathologischer Degenerationslehre. Ganz nebenbei stellt sie das kulturkonservative Pendant zu Neil Postmans Behauptung, wir amüsierten uns zu Tode, dar. Aber amüsant ist das alles natürlich gar nicht. Die sich schamlos zur Schau stellende "Geschwistergesellschaft" – so der Originaltitel des Buches – hat als reizvolles ästhetisches Modell längst ausgedient. Heute repräsentiert sie nichts mehr als finstere Morbidität, Auflösung, Zerfall und Zerstörung der Identitäten. Indem sie sich alle Optionen offen hält, gerät sie aber unweigerlich in den verhängnisvollen Sog, den Verlust von Sinn in einem Happening des hysterischen Frohsinns zu feiern. Über dieses masochistische Vergnügen am eigenen Gestörtsein wacht die kindliche Gesellschaft so eifersüchtig, wie über wenige ihrer fragwürdigen Güter und Errungenschaften.

Was Bly den falschen Propheten der halberwachsenen Gesellschaften unserer Zeit gegenüberstellt, ist jene Wahrheit der Lebensfreude, die vielleicht eine tragische und der modernen Welt gänzlich abhanden gekommene verzweifelte Grundhaltung aus Autorität, Humor, Güte und liebevoller Strenge darstellt. Während allerorten die fröhlichste mediale Debilität durch das Land tobt – tatsächlich geht z. B. im Fernsehen auch das dümmlichste Gestammel noch als "intellektuell" durch – feiert die kastratenhafte Anhängerschaft der "soap operas" im anonymen Körperkult des Techno ihre androgyneRevolution. Baudrillard wußte sehr gut, wovon er sprach, als er schrieb: "Das Sexuelle hat den Sieg über die Verführung davongetragen!"

Daß uns das "Frohlocken inmitten der Seichtheit" schon bald vergehen wird, davon ist der Autor felsenfest überzeugt, weil diejenigen, die ihrem infantilen Publikum die ungeteilte Wirklichkeit aus volkserzieherischen und politischen Gründen vorenthalten, sich womöglich selbst nicht zutrauen, den Sirenengesängen des Primitivismus und der großen Lügen standzuhalten. Vehement vertritt Bly die These, daß die Evolution der menschlichen Intelligenz inzwischen zum Stillstand gekommen ist. Eingängiges Sinnbild dafür ist ein Sechsjähriger, der daumenlutschend auf den Bildschirm starrt, während seine Eltern neben ihm mit der anregenden Lektüre irgendwelcher Comics beschäftigt sind.

Nachdem die Politiker im trauten Verein mit den elektronischen Medien höchst erfolgreich an der Entgrenzung und Entortung des Menschen gearbeitet haben, steht nun die Entwertung von menschlicher Erfahrung auf ihrem Programm. Dies bedeutet in der Praxis, daß außer einigen autarken Handwerkern und Privatgelehrten jedermann drei- bis viermal im Leben nicht nur seinen Job, sondern auch seinen erlernten Beruf zu wechseln gezwungen wird. Neben der Kolonisierung der eigenen Kultur gehört dies wohl zu den deprimierendsten Erscheinungen, die Bly beschreibt.

Man macht es sich entschieden zu leicht, Bly vorschnell als Romantiker, naiven Antikapitalisten oder gar als Vordenker eines kulturpessimistischen Milieus zu schelten. In Wahrheit hat er natürlich nur nachgedacht und ist dabei zu einigen recht originellen Resultaten gekommen. Sein Buch wird gewiß nicht die letzte Interpretation der Moderne und ihrer wüstesten Auswüchse sein. Aber es ist eines der wichtigsten!

 

Robert Bly: Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen zu werden. Kindler Verlag, München 1997, 383 Seiten, geb., 44 Mark


 
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