© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Politik: Staatsrat Luigi Vittorio Graf Ferrerais über Unfähigkeit der Politiker, Ideale zu vermitteln
"Man sollte eine Elite aufbauen"
von Götz Kubitschek

Graf Ferraris, drei große Themen werden landläufig etwa so gewichtet: Wirtschaft kommt vor Politik, zuletzt steht die Kultur. Sie haben etwas gegen die Bevorzugung der Wirtschaft im Prozeß der Entscheidungsfindung. Was gewichten Sie anders?

Ferraris: Kultur ist auf eine bestimmte Weise die Voraussetzung von allem. Mich hat es in letzter Zeit mehr und mehr beunruhigt, daß überall die Wirtschaft Priorität genießt, und dies in dreierlei Weise: Erstens spricht man von der Globalisierung, und dieses Wort verleiht der Wirtschaft ein ungeheures Gewicht. Die Leute tun alles, was dieser globalen Wirtschaft dient. Zweitens beobachte ich, daß die westlichen Demokratien vollständig an die Marktwirtschaft gekoppelt sind. Man ist demokratisch, weil man marktwirtschaftlich lebt. Das kann gefährlich werden. Drittens wird in unserer Welt der Wert eines Menschen nach seinem wirtschaftlichen Erfolg gemessen. Auch das scheint mir gefährlich zu sein: Wo bleiben die geistigen Maßstäbe?

Ich gebe die Frage zurück.

Ferraris: Und ich habe keine Patentrezepte. Ich meine aber: Die Entlegitimierung der Politik, die zu einer Geisel der Wirtschaft wird, gefährdet die abendländische Kultur.

Ihre These könnte lauten: Gute Demokraten sind die Menschen nur dann, wenn es ihnen wirtschaftlich gut geht.

Ferraris: Man kann sich diese Frage einmal mit Blick auf Deutschland stellen. Wie liegt – brutal gesagt – der Erfolg Deutschlands nach 1945? Doch immer in den großen wirtschaftlichen Leistungen. Zerstört waren in Deutschland nicht nur die Städte und Industrieanlagen. Auch die Ideale waren zerstört. Wirtschaftliche Blüte wurde rasch wieder erreicht, Demokratie wurde ausgeübt, aber niemand verfolgte mehr große Ideale. Das einzige Ideal hieß Europa und ist mit Wohlstand, Wachstum und Fortschritt verbunden. Ich stelle jetzt nur eine Frage: Wenn der Wohlstand einmal nicht mehr da ist – noch ist er da: Können die Freiheit, die Demokratie, die Liebe zur Demokratie in Gefahr geraten? Die Politik kann ja den Menschen nicht alles geben und versprechen, was sie wollen. Das kann keiner bezahlen. Das ist die Spaltung zwischen Bürger und Politik. Wenn der Wohlstand also sinkt, kann das antidemokratische Gefühle wecken. Das ist die Spaltung zwischen Politik und Wirtschaft. Darin liegt im Keim eine Gefahr.

Sie haben das jetzt am Beispiel Deutschlands besprochen. Gelten Ihre Überlegungen auch für andere europäische Länder?

Ferraris: Im Grunde sind die Probleme in allen westeuropäischen Ländern dieselben. Es geht letzten Endes um den notwendigen Abbau des Sozialstaates. Man spürt: Die Wirtschaft kann nur blühend bleiben, wenn man auf etwas verzichtet.

Der Preis, der bezahlt werden muß, berührt die Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre, er berührt die soziale Marktwirtschaft, die Ausgewogenheit also zwischen sozialem Gefühl und freiem Wirtschaften. Die Betonung liegt bei den Bürgern stark auf dem Sozialen. Dessen Abbau kann sie ein wenig vom System entfernen, kann zu Mißtrauen führen. Das muß uns jetzt schon zu anderen Werten führen, die von der Wirtschaft nicht abhängig sind: Religion, Familie, Pflichtbewußtsein.

Es ist schwer, damit junge Menschen zu erreichen.

Ferraris: Ich denke nicht zu schwer. Es ist falsch, den jungen Menschen nur Hoffnungen zu machen. Sie wollen ja ehrlich behandelt werden und begreifen schnell, daß abstrakte Werte notwendige Stützen der Gesellschaft sind.

"Wenn der Wohlstand sinkt, kann das antidemokratische Gefühle wecken"

Sie haben jetzt einige Jahre an mitteldeutschen Universitäten gelehrt. Haben Sie ein Wertebewußtsein feststellen können bei den jungen Studenten aus der ehemaligen DDR?

Ferraris: In der DDR gab es eine Mischung aus traditionellen, alten deutschen Werten und verfälschten, sozialistischen Werten. Beide Gruppen sind mit der Wende kaputtgegangen. Und nun haben die jungen Leute das Problem: Welche Werte geben Orientierung? Die westliche Demokratie ist für sie nicht überzeugend. Neue Werte gibt es nicht. Kurz gesagt: Der Westen kam und sagte: wir haben gewonnen. Aber das Problem mit der Gerechtigkeit bleibt. In der DDR gab es zumindest den theoretischen Anspruch der sozialistischen Gerechtigkeit. Für die jungen Leute ist das schwer in Einklang zu bringen. Das kann im schlimmsten Fall eine völlige Abneigung der Politik gegenüber mit sich bringen: Ich mache meinen Job, ich möchte Geld verdienen und besser leben, der Rest kann aber zum Teufel gehen. Dabei ist politische Teilnahme so wichtig! Dabei muß aber das Gefühl entstehen: Ich beeinflusse wirklich etwas. Meist aber überwiegt die Enttäuschung.

"Deutschland muß über seinen Schatten springen: Pflicht ist, das zu tun, was notwendig ist"

Haben Sie ein aktuelles Beispiel dafür?

Ferraris: Es gibt ein gutes Beispiel, die Rechtschreibdebatte. Das ist eine schwierige, aber lehrreiche Debatte: denn das Ergebnis der Reform stimmt nicht mit dem Denken der meisten Leute überein. Der Wohlstand hat bisher die Menschen ruhig gehalten. Wenn er ins Schleudern gerät, wird es auch mit der Demokratie schwieriger.

Nach allem könnte man so sagen: Sie setzten dem modernen Wirtschaftsjünger den gebildeten, kultur- und heimatbewußten, armen Philosophen entgegen.

Ferraris: Es ist schwierig, sich den armen Philosophen zu wünschen. Wissen Sie, ich lese seit Jahren an der Universität, und ich muß sagen – damit meine ich jetzt Italien –: Die derzeitige Generation der Studenten ist sehr gut, besonders die der Mädchen. Zielbewußt, konkret, weit weg von dieser leeren Politik der 68er. Sie wollen etwas schaffen, sie wollen natürlich Geld verdienen, das ist klar, aber sie haben gute Gefühle. Sie sind bereit, etwas zu tun, man kann sie dazu bewegen. Ist aber die Politik bereit, das anzunehmen? Oder spricht die Politik viel zu viel mit sich selbst, ohne die Leute anzusprechen? Typisch dafür ist doch die Debatte um Maastricht: Man hat Europa mit dem Bürger aufgebaut. Kann man auch von Maastricht sagen: Das baut man mit dem Bürger, mit den jungen Leuten?

Ich bitte Sie, die Frage selbst zu beantworten.

Ferraris: Ich weiß es nicht genau. Aber es gibt berechtigte Zweifel daran. Und bereits die Zweifel sind für mich etwas sehr Negatives. Lassen wir die gewalttätige Jugend, die Hooligans beseite, das ist nur ein Teil: Es gibt die große Menge, die gut ist. Am größten aber ist die graue Mitte, die nicht weiß, ob sie sich für die gute oder die gewalttätige Seite entscheidet. Und da wird das Manko der Politik, keine Ideale zu bieten, besonders deutlich. Das muß dringend behoben werden.

Wir haben es also mit einer Politik zu tun, die nicht mehr viel zu tun hat mit der jungen Generation. Das schreit nach Erneuerung.

Ferraris: Erneuerung der Politik ist ein sehr schwieriges Wort. Darin steckt eine neue politische Klasse. Das ist, als wollten Sie ein Kaninchen aus dem Hut zaubern. Deswegen sollte man auf eines ganz besonderen Wert legen: Man sollte eine Elite aufbauen. Darüber kann man kaum reden, denn Elite hat etwas mit Aristokratie zu tun. Auf keinen Fall aber kann man Ideale künstlich aufbauen. Deswegen ist es eine Pflicht der älteren Generation, den Jungen beizubringen, daß eben Pflicht eine wichtige Rolle spielt. Der Pflicht treu zu bleiben, ist notwendig.

Das ist heute ein unerwünschter Wunsch.

Ferraris: In Deutschland ist das noch schwieriger als anderswo: Man denkt gleich an eine Entartung der Pflicht. Da müssen die Deutschen über ihren Schatten springen. Pflicht ist, das zu tun, was notwendig ist. Überall sieht man Mangel an Zielstrebigkeit, Mangel an Pflichtbewußtsein in der Politik, Korruption und schlechtes Vorbild. Wie kann man da von den jungen Menschen etwas erwarten? Sogar mit Idealen, die nicht ganz richtig sind, kann man mehr aufbauen als ohne jedes Ideal. Noch einmal: Pflicht ist, das zu tun, was notwendig ist. Das Notwendige ist das Richtige. Das Richtige läßt sich mit dem Gewissen prüfen. Diese demokratische Tugend muß der Jugend vorgelebt werden. Mehr können die Alten nicht leisten.


 
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