© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Ziltendorfer Niederung: Die Bewohner der Ernst-Thälmann-Siedlung zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Die stille Hilfe unbekannter Menschen
von Kai Guleikoff

D

as Hochwasser im Sommer diesen Jahres ist in die Geschichte der Oderregion eingegangen als das "Jahrhunderthochwasser". Bis heute wird über die Ursachen, den Verlauf des Ereignisses und seine Folgen heftig gestritten. Die Verteilung der rund 130 Millionen DM Spendengelder an die Geschädigten der Oderflut spaltet Politiker und Wahlvolk, beteiligte Länder in der Region und sogar die Nachbarn in den Dörfern und Siedlungen. Von der genannten Summe sollen lediglich 50 Millionen DM in Deutschland verbleiben, der größere Teil nach Polen und Tschechien überwiesen werden. Das Konto der Landesregierung Brandenburg für Hochwasseropfer, auf dem 17,5 Millionen DM an Spenden eingegangen sind, wird als einziges ausschließlich für Geschädigte diesseits der Oder verwandt. Ein unabhängiger Beirat versucht den Mittelabfluß zu koordinieren, zeigte sich aber auf verschiedentliche Anfrage nicht in der Lage, genaue Angaben zu machen.

Millionenkredite versanken in den Fluten der Oder

Vor diesem Hintergrund reiste in der vergangenen Woche ein Reporter-Team der jungen freiheit, wie schon einmal im Juli, in das Katastrophengebiet an die Oder. Ziel der Fahrt war die Ernst-Thälmann-Siedlung in der Ziltendorfer Niederung. Der Bruch des Oderdammes südlich von Aurith am 23. Juli 1997 brachte dieses wenig bekannte Land in die Schlagzeilen der Weltpresse. Bis heute hält sich das "böse Gerücht vom Notdurchstich" zur Rettung der Stadt Frankfurt und der Oderbruchsenke.

Von Eisenhüttenstadt über Pohlitzer Mühle nach Ziltendorf, weiter Richtung Wiesenau, erster Abzweig rechts dem Wegweiser nach mit der Aufschrift "Thälmann-Siedlung". Auf der Ackerfläche große Traktoren, die mit entsprechendem Anhängegerät den Boden abflußfähig machen. Mit den letzten Sonnenstrahlen bereiten sich die Menschen hier auf das bevorstehende Winterhochwasser vor. Die Spuren der Sommerflut sind im Modergeruch zu atmen und in den verschiedenen Ablagerungen an Gebäuden und Bepflanzungen in Manneshöhe zu sehen. Nach knapp zwei Kilometern sind die ersten Grundstücksgrenzen zu erkennen. Häuser ohne Fenster und Türen, die Öffnungen sind mit Folien abgehängt. Bewohner leben in Bauwagen, Campinganhängern und Zelten. An anderer Stelle beinahe wieder Normalität und ein paar hundert Meter weiter – gar nichts: Totalabriß. Unterschiede in Bausubstanz und Erhaltungszustand der Bebauungen trotzten ebenso unterschiedlich dem dreiwöchigen Hochwasser der Oder in dieser unglücklichen Niederung. Die jüngsten Häuser, besonders die aus Fertigteilen, raffte es zuerst hin. Millionenkredite versanken in den Fluten der Oder und werden nun als Sondermüll entsorgt.

Wer sich eine moderne Ölheizung empfehlen ließ, war besonders arm dran. Die auslaufenden Öltanks machten auch den letzten Hausrat unbrauchbar. Umsiedler- und Neusiedlerbauten aus der zweiten Hälfte der 40er Jahre wurden noch am besten mit der entfesselten Oder fertig. Die Ofenheizungen konnten teilweise wieder aktiviert werden. Trotzdem wollen die Siedler nun auf Erdgas "umsteigen", weil zur Abtrocknung des Mauerwerkes Tag- und Nachtheizung mit Vollast erforderlich wird.

Die Thälmann-Siedlung ist kreuzförmig angelegt mit einer befestigten Straße zum Abzweig Ziltendorf-Aurith. An diesem Abzweig befindet sich der Standort des berühmt gewordenen Busdepots. Hier, auf dem Gelände einer abgewickelten landwirtschaftlichen Einrichtung, waren fahrbereite Busse aus ganz Deutschland zusammengezogen worden zum Transfer in Staaten der GUS. Jetzt sieht der Stellplatz wie nach einem Luftangriff aus. Schwere Gliederbusse liegen umgeworfen auf der Seite, herausgerissene Motoren und andere Fahrzeugteile rosten im braunen Gras. In Eingangsnähe steht noch eine exakt ausgerichtete Fahrzeugreihe, an vergangene Normalität erinnernd. Zwischen den Trümmern klettern ein paar Männer in Arbeitskleidung herum. Der Motor eines Busses läuft unheimlich laut in dieser Stille. Erstaunlich, was Menschen zustande bringen und hervorragend verarbeitetes Material aushält. An einer verschmierten Busscheibe ein kaum noch lesbarer Aufkleber: Wer an Christus glaubt, dem wird geholfen.

Der kurze Weg zurück führt zum Mittelpunkt der Siedlung. Am Straßenrand stehen Firmenschilder, die Bauwerkstrockenlegung anbieten, Sanierungs- und Rekonstruktionsmaßnahmen. Am Zaun unterhalten sich Einwohner, die aus Fernsehsendungen bereits bekannt wirken. Ein Kleinbus des Technischen Hilfswerkes (THW) und zwei Firmen-Pkw aus Eisenhüttenstadt fahren langsam vorbei. Uns interessieren jetzt Meinungen der Siedler zur Situation vor Ort. Die Menschen sind hier zurückhaltend, müde von diesem Lebenseinschnitt, der noch lange nicht verarbeitet ist, und sie sind mißtrauisch gegenüber diesem plötzlichen Überangebot menschlicher Charaktere.

Unser Kleinwagen hält an einem Gartentor. Auf dem Hof steht eine Frau in mittlerem Alter mit ihren Kindern. Begrüßungsworte über das noch gute Wetter und den Beginn des Wiederaufbaues des Grundstückes. Die Frau nimmt die verschränkten Arme herunter und öffnet das Gartentor. Nun werden die Fragen konkreter. Wieder kommt das "böse Gerücht" zur Sprache. Die ausweichenden Antworten sind verständlich: Raison ist hier anerzogen. Der Damm bei Aurith wurde als sehr fest angesehen. Deshalb kam hier auch das Sammellager für Busse hin. Zu DDR-Zeiten soll die staatliche Wasserwirtschaft alles gut im Griff gehabt haben. Trugen ja auch Uniformen mit Rangabzeichen!

Wehrpflichtige handelten frischer als Beamte

Die Mitteilung über die Flut ist per Handzettel in die Briefkästen eingeworfen worden. Nach der Evakuierung aus den Häusern hat die Post noch den Tag darauf Briefe ausgetragen. Diese Art von "Spontanität" ist nicht gut angekommen. Gelobt wird die Bundeswehr, das THW weniger. Wehrpflichtige handelten frischer als behäbige Beamte. Nachbarschaftshilfe wurde sehr groß geschrieben, hier haben die Medien eher untertrieben. Nun ist es damit ruhiger geworden. Der unmittelbare Druck von außen ist gewichen, und jeder hat seine Probleme zu lösen. Die begannen bereits mit der Schadenaufnahme. Das zuständige Amt Brieskow-Finkenheerd entsandte Trupps, die erste Einschätzungen vornahmen.

Bei unserer Gesprächspartnerin waren es 220.000 DM. In der schriftlichen Bestätigung erfolgte dann die "Verschlankung" auf 171.000 DM. Unkomplizierter dagegen war der Erhalt der Bescheinigung als Hochwassergeschädigter und die Auszahlung der Soforthilfe. Alles erfolgte im Wohnumfeld bzw. Evakuierungsraum. Nach dem Rückgang der Flut setzte wieder die Normalität der Bürokratie ein. Ein Schreiben des Amtsdirektors vom 14. August 1997 legt die geförderten Maßnahmen fest: Trockenlegung, Fundamentarbeiten, Fassadenerneuerung, Ersatz von Fenstern und Außentüren und Austausch beschädigter Bauteile mit statischer Funktion sowie Innensanierung (Decken, Fußböden und teilweise auch Treppen). Danach folgt die Aufzählung der Arbeiten, die nicht gefördert werden: Innentüren, Ausstattungen mit Möbeln, Haushaltsgeräten etc., Ausrüstung und Installationen mit Elektro, Heizung, Wasser, Abwasser etc. und Malerarbeiten. Anträge sind im Bauamt erhältlich, Sprechzeit nicht länger als 18.00 Uhr und das nur am "Behördentag" Dienstag. Mit dem Antrag sind einzureichen: Eigentumsnachweis, Beschreibung der Maßnahme in Kurzform, Kostenschätzung bzw. Kostenangebot, Fotos nach Möglichkeit und Aussagen zu anderen Finanzierungsmöglichkeiten, wie Versicherungen o.ä.

Kurze Unterbrechung zur Nachfrage über erfolgte oder in Aussicht gestellte Versicherungsleistungen. Unser befragter Haushalt hat pauschal 5.000 DM aus der Hausratversicherung bekommen. Ein Grund zur Kündigung, wenn die gezahlten Versicherungsprämien dagegen gerechnet werden ! Aus Spendenmitteln sollen 400 DM/qm zur Innenausstattung bereitgestellt werden. Eine Hochwasserversicherung hatte fast keiner in der Siedlung; sie war einfach zu teuer. Die Formulierungen in der Möglichkeitsform lassen aufhorchen. Es gibt einen Stau der Spenden- und Fördermittel. Vom Konto der Landesregierung waren bis Ende September etwa die Hälfte der Spendenmittel in die betroffenen Landkreise weitergegeben worden. Die Zeit drängt, und die Menschen wollen die Häuser bis zum ersten Frosteinbruch mit Fenstern, Außentüren und einer Heizung versehen haben. Die Bürger schimpfen: In der DDR klappte es mit der Organisation und haperte es mit dem Material. Nun ist es genau umgekehrt. Pauschalisierungen sind immer unakzeptabel, kennzeichnen jedoch häufig den wahren Trend. Doch die Oderländer sind hartnäckige Menschen. Allen Widrigkeiten zum Trotz beginnen sie immer wieder neu. Lediglich zehn Familien wollen aus dem Überschwemmungsgebiet wegziehen, wird erzählt.

Unsere letzte Frage gilt der Präsenz der Politiker vor Ort. Schwarze Autos waren hier mehr als genug, wird uns erklärt. Alles gut gesichert mit kräftigen Männern und begleitet von zahlreichen Kameras. Sogar die Arbeiten mußten in dieser Zeit ruhen. Eine gute Meinung haben die Einwohner von ihrem Bürgermeister Rainer Vierling (40) und seinen Mannen von der Freiwilligen Feuerwehr. Der Nachwuchs von der Jugendfeuerwehr kommt auch gut weg. Basisarbeit also erfreulich.

Die hohe Politik in Bonn reagierte auf die Oderkatastrophe in der Haushaltsführung 1997 mit außerplanmäßigen Ausgaben. Der Bundesminister für Finanzen stellte 20 Millionen DM zur Verfügung mit der Begründung, daß die Mehrausgabe durch die schweren Hochwasserschäden an Oder und Neisse begründet seien und als Zeichen der gesamtstaatlichen Solidarität zu werten sind. Darüber hinaus sind von gleicher Stelle Sachkostenzuschüsse und Strukturanpassungsmaßnahmen zur Beseitigung von Hochwasserschäden in der Oderregion bis zur Höhe von 17,5 Millionen DM freigegeben worden.

Die Zuwendungen aus dem Westen sind enorm

Der Kanzler und Bundesverteidigungsminister Volker Rühe vertraten den Bund am Ort des Geschehens. Kohl flößte Vertrauen ein aus der Art seines Auftretens. Die Mehrheit der Bürger in der Ziltendorfer Niederung hat das so empfunden. Rühe wirkte dagegen unbeholfen, aber gutmütig. Manche Aktion, wie die fotogene Ablage eines Sandsackes, wirkte einfach deplaziert. Wofür Berater ihr Geld bekommen, fragt sich oft der Bürger. In Brandenburg sind Ministerpräsident Stolpe und Umweltminister Platzeck angesehen. Bei Matthias Platzeck gibt es jedoch Einschränkungen; er sei eitel und auf Karriere bedacht. Gern höre er auf die Bezeichnung "Deichgraf" und liebäugele mit dem "Thron" des Landesvaters.

Bis zum November soll die Dammlücke von 140 Metern bei Aurith geschlossen sein. Rund 2 Millionen DM wird die Instandsetzung kosten. Aufträge von 10 Millionen DM sind im gesamten Überschwemmungsgebiet vergeben worden.

Beim Thema Geld kommt das Gespräch noch einmal auf die Spenden. Die Zuwendung aus ganz Deutschland für die Thälmann-Siedlung ist enorm. Autos und Kleintransporter aus dem Rheinland, von Weser und Werra haben hergefunden. Hausrat, Kleidung und Elektrogeräte jeder Größe wechseln auf der Straße den Besitzer. Ebenso wertvoll sind die Tips und Erfahrungen der Spender mit dem Hochwasser in ihren Landesteilen. Seit 1990 war die Einheit der Deutschen wieder hautnah erlebbar. Jeder der rund 50.000 Helfer kann davon als Zeitzeuge berichten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen