© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Pankraz, A. Pope und der Eifer, sich zu entschuldigen

Öffentliche Entschuldigungen wegen historischer Vorkommnisse fliegen zur Zeit wie Papierschlangen in der Luft herum. Der Papst entschuldigt sich fast jede Woche neu, einmal "wg. Galilei", ein andermal "wg. Savanarola", ein drittes Mal "wg. der Inquisition", die französischen Bischöfe entschuldigen sich "wg. unseres Schweigens zu den Judenaushebungen durch Vichy", der norwegische König entschuldigt sich "wg. des Unrechts an den Samen", die englische Königin "wg. Amritsar"… Nur die Amerikaner zeigen sich (noch) verstockt. Sie sollen sich endlich entschuldigen "wg. Mordes an den Indianern" und "wg. des Sklavenhandels mit den Schwarzen". Aber die Regierung in Washington will davon nichts wissen.

Pankraz steht hier ausnahmsweise einmal voll auf der Seite der Washingtoner Regierung, schon wg. der unaufhebbaren Heuchelei, die dem Ritual der Entschuldigung von Natur aus innewohnt. Kein Mensch kann nachprüfen, ob einem "Entschuldigen Sie bitte!" echte Reue und Zerknirschung oder nur gesellschaftliche Konvention zugrunde liegt. Im Chor der Moralisten hatte die Entschuldigung stets eine schlechte Presse. Die meisten bezeichneten sie schlicht als Verstellung, als schlaues Kalkül, um der Strafe zu entgehen.

Besonders die Aufklärer des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts konnten sich nicht genugtun, vor der Entschuldigung zu warnen. John Locke entwickelte in seiner Pädagogik eine ganze Skala von Erziehungsmaßnahmen (bis hin zum Rohrstock) gegen Kinder, die für eine Tat "immer wieder eine honette Entschuldigung vorbringen". Der zarte Alexander Pope wütete, eine Entschuldigung sei ärger und schrecklicher als eine Lüge, denn sie sei eine "geschützte Lüge", die einen ganzen Rattenschwanz von Folge- und Nebenlügen nach sich ziehe.

Neuzeitliche Entschuldigungs-Fanatiker pflegen dagegen einzuwenden, sie wollten ihrerseits doch gar nicht "etwas", sondern "sich" entschuldigen, nicht die Tat, sondern den Täter, sie wollten die Tat also nicht erklären, sondern mit tiefem, tiefem Kniefall bedauern und um Vergebung flehen. Doch im Grunde machen sie dadurch die Verlegenheit nur noch verlegener. Denn was man nicht erklären kann oder mag, das gerinnt einem allmählich zu einem mythischen Monster, vor dem man nur noch im Staube kriecht. Die Entschuldigung wird zum Hintern, den man irgendwelchen Mythologen zur Rohrstockbehandlung hinreckt.

Da es sich bei den fraglichen Entschuldigungsfällen durch die Bank um Ereignisse handelt, die weit, häufig sogar außerordentlich weit, in der Geschichte zurückliegen, fällt es dem einzelnen schwer, überhaupt ein individuelles, eventuell justifizierbares Verhältnis zu ihnen herzustellen. Jegliches Gefühl für Eigenverantwortung zerstiebt vor dem Bild der historischen "kollektiven" Schuld, die man, ohne zu fragen, auf sich zu nehmen und in Entschuldigungsgestammel umzusetzen habe. Geschichte insgesamt wird in geradezu grotesker Weise moralisiert und den Lebenden als Zerknirschungsbank auferlegt. Die Geschichtswissenschaft, nach Hegel eine "befreiende Wissenschaft", hebt sich auf.

Das Modell für solches Treiben ist natürlich die neudeutsche "Vergangenheitsbewältigung". Sie erweist sich immer mehr als ein internationales Erfolgsmodell, als Exportschlager. Pankraz, der ziemlich oft mit französischen Philosophen und Intellektuellen zusammenkommt, entdeckte schon vor einiger Zeit, daß viele dieser Intellektuellen regelrecht neidisch auf unsere "Vergangenheitsbewältigung" waren, auf die Einflußmöglichkeiten, die ein Ideologe durch sie auf Politiker, Pastoren, Anzeigengeber und andere reiche Leute gewinnt. So sannen sie darauf, diesen psychologischen Mechanismus auch auf ihre eigene Geschichte anzuwenden.

Zustatten kam ihnen dabei eine machtvolle Geistestradition, auf der der Begriff der Schuld im Abendland ruht. Die alten Griechen, Anaximandros, verkündeten, daß der Mensch, einfach indem er lebt, in Schuld verstrickt sei und dafür zu büßen habe. Und die biblische Lehre vom Sündenfall, schon von den alten Judenpropheten in ein ewiges Zetern über die Sünden ihrer Mitmenschen umfunktioniert, kam dem spätantiken Christentum gerade recht, um die ganze irdische Geschichte als ein einziges Sündenbabel hinzustellen und von der "civitas Dei" abzuheben. Das feiert nun in den modernen Entschuldigungstheorien unfröhliche Urständ.

Die Aufklärung wird auf breitester Front zurückgenommen. Diese hatte an die Stelle von Schuldverkündigung subtile Ursachenforschung gesetzt. Individuelle Schuld wurde zwar (zumindest von den besten ihrer Vertreter) nicht geleugnet, aber die "kollektive Schuld" löste sich auf in ein Geflecht von sozialen, biologischen und psychologischen Bedingtheiten, die dem freien, schuldfähigen Willen bei der Gestaltung geschichtlicher Prozesse nur noch einen kleinen Spielraum ließen.

Nie wäre es einem Alexander Pope, diesem zarten, zerbrechlichen Freund der Gerechtigkeit, eingefallen, die Engländer aufzufordern, sie möchten sich wegen des Völkermords an den Iren unter Cromwell entschuldigen – aber nicht, weil er kein Mitleid mit den Iren gehabt oder nicht Cromwell für eine catilinarische Existenz gehalten hätte, sondern weil er über das Gewirr geschichtlicher Verstrickungen Bescheid wußte und eine "Entschuldigung" dafür, von wem auch immer, für eine ruchlose Torheit gehalten hätte, als würde ein Hund den Mond anbellen.

Außerdem wußte er genau um die Heimtücke, die ja schon in einer individuellen Entschuldigung wegen einer aktuellen Tat liegt. "Wenn sich einer bei uns entschuldigt und er meint es ehrlich", notierte er in seinen Aphorismen, "dann muß er es sehr gut machen, sonst kommen wir uns leicht selber als Schuldige vor". Man sollte einmal die derzeitige Entschuldigungsschwemme von diesem Gesichtspunkt her unter die Lupe nehmen.


 
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