© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Deutschland: Erster Stabschef der NVA in Opposition zur SED-Führung
Gedient in fünf Armeen
von Rolf Helfert

Im Jahr 1963 verschwand aus dem Panzerschrank des Generalinspekteurs der Bundeswehr ein bedeutsames zeitgeschichtliches Dokument. Darin legte der Verfasser die Hintergründe und Umstände des Todes von Vincenz Müller dar, ehemaliger Stabschef des DDR-Militärs, der am 12. Mai 1961 zu Tode gekommen war. Jener Bericht stammte von Müllers Sohn, einem Afrika-Forscher der DDR.

Bevor dieser Text spurlos abhanden kam, las ihn ein heute pensionierter Bundeswehr-General. Die wichtigsten Aussagen des Dokuments behielt er im Gedächtnis: Vincenz Müller habe Selbstmord begangen, um der Verfolgung durch die Stasi zu entgehen. Zuvor hätte er sich mit der SED überworfen und eine "Yorcksche Tat" vollbringen wollen. Sein Ziel sei es gewesen, Deutschland wiederzuvereinigen.

Nacherzählungen, auch wenn sie glaubwürdig erscheinen, gelten als unwissenschaftliche Quelle. Bis zur Öffnung der Stasi-Archive war es kaum möglich, etwas Genaueres über Vincenz Müller zu erfahren. Dessen Stasi-Akte, die der Verfasser dieser Zeilen einsehen konnte, läßt immer noch etliche Fragen offen. Erschwert wird die Analyse dieser rund 800 Seiten durch das Zensur-Verhalten der Gauck-Behörde, die auf fast jeder Seite Textstellen "geschwärzt" hat. Anhand von Tatsachen und Indizien ist es dennoch möglich, einige der wichtigsten Sachverhalte wenigstens hypothetisch zu rekonstruieren.

Vincenz Müller, geboren 1894 im südbayerischen Aichach, war eine der interessantesten, aber auch schillerndsten Figuren deutscher Zeitgeschichte. 1913 trat er als Berufssoldat in die kaiserliche Armee ein und machte bald Karriere. Im Ersten Weltkrieg stand Müller an der Westfront. Zeitweise beriet und organisierte er in der Türkei das dortige Militär. Müller genoß den Ruf, ein sehr fähiger Offizier zu sein. Nachdem er 1916/17 eine Generalstabsausbildung absolviert hatte, arbeitete er bis 1931 in der politischen Abteilung des Reichswehrministeriums. Hier saß er im Vorzimmer des Generals Kurt von Schleicher, der möglicherweise großen Einfluß auf ihn ausübte. Von 1933 bis 1940 betätigte er sich in unterschiedlichen Bereichen als Generalstabsoffizier und nahm dann – ab August 1943 im Rang eines Generalleutnants – am Rußlandfeldzug teil.

Der 8. Juli 1944 brachte die große Wende in seinem Leben. Bei Minsk, wo er das 12. Korps kommandierte, geriet er in sowjetische Gefangenschaft. Unklar bleibt, ob er vor oder nach seiner Gefangennahme die ihm unterstellte Truppe zur Kapitulation aufrief. In Deutschland verurteilte man ihn in Abwesenheit zum Tode.

Während der Unruhen in Polen "krank gemacht"

Bei den Sowjets vollzog Müller einen radikal-opportunistischen Kurswechsel, trat zum Nationalkomitee Freies Deutschland über, für das er in Presse und Rundfunk arbeitete. Müller besuchte die "Antifa-Schule", in der er nach eigenen Angaben 1948 als "Assistent und Seminarleiter für Philosophie" angestellt war. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft Ende 1948 ging Müller in die SBZ. Bald darauf erhielt er den Posten eines stellvertretenden Vorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und bekleidete von 1950 bis 1952 das Vizepräsidentenamt der Volkskammer. Im September 1952 trat er in die Kasernierte Volkspolizei (KVP) ein und wirkte bis zur Pensionierung Anfang 1958 hauptsächlich als Stabschef der KVP/NVA.

Zweifellos hat sich Müller, ähnlich wie Paulus, den neuen Herren in Mitteldeutschland angebiedert, ohne mit ihnen zu harmonieren. Manches spricht dafür, daß er sich im Laufe der fünfziger Jahre tendenziell von der SED abwandte und versuchte, eine eigenständige Rolle auszuüben. Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre entstanden heftige Streitigkeiten zwischen Müller und den SED-Generälen. Stabschef Müller widersetzte sich einer totalen Sowjetisierung des DDR-Militärs. Disziplinarvorschriften, Gefechtstaktik, Uniformen und anderes sollte die NVA von der Wehrmacht übernehmen. Müller wollte damit deutsche "Besonderheiten" anerkennen. Auch Stasi-Oberst Bitter wies darauf hin, daß Müller Vorschriften der Wehrmacht bevorzuge und die der "Freunde" – also der sowjetischen Armee – nicht akzeptiere. Außerdem habe er während der Unruhen in Polen und Ungarn "krank gemacht".

Völlig richtig erkannte die SED-Führung, daß Müller gegen die Allmacht der sowjetischen Besatzer opponierte. 1952 äußerte er gegenüber dem Chefinspekteur der Volkspolizei, Gronau: "Die Russen (er spricht nie von der Sowjetunion) müssen doch endlich einmal verstehen, daß sie als Besatzungsmacht in einem fremden Land sind, wo andere Bedingungen herrschen als in ihrem eigenen."

Empört nahm die Stasi 1956 das Müllersche Anliegen zur Kenntnis, der NVA eine relative Autonomie zu verschaffen. Nach Müllers Plan sollte sich das DDR-Verteidigungsministerium nur um Ausbildungs- und Gefechtsfragen kümmern und alles andere dem Stab der NVA überlassen. Müller sehe, schrieb ein Stasi-Informant, in einer "Teilung der Aufgaben (…) nach dem Muster der ehemaligen faschistischen Wehrmacht die Perspektive". Beabsichtigt sei, die Armee von der Partei zu lösen.

Viele SED-Offiziere mißtrauten ihrem eigenen Stabschef. An wichtigen Beratungen durfte Müller oft nicht teilnehmen, damit er keinen "Einblick (…) in interne Parteibeschlüsse erhält". Und Stasi-Oberst Bitter ersuchte Ulbricht 1955, Müller aus dem Dienst zu entfernen. Vorerst blieb man jedoch auf dessen fachliche Kompetenz angewiesen. Müller selbst erkannte, daß die SED ihn argwöhnisch beobachtete. Auf Schritt und Tritt observierten ihn Stasi-Spitzel. Anläßlich des Todes von Stalin im März 1953 erklärte er während einer Trauerfeier: "Stalin war und wird immer bleiben der beste Freund des deutschen Volkes". Müller las statt Freund Feind vor und verbesserte sich sofort.

Nicht nur Müllers militärpolitische Konzepte mißfielen der SED. Er versuchte sogar, hinter deren Rücken Kontakte gen Westdeutschland zu knüpfen. Eine Person, deren Namen die Gauck-Behörde leider schwärzte, sollte 1955 im Auftrag Müllers nach Westdeutschland reisen und dort ehemalige Offiziere fragen, ob sie bereit seien, "Verbindungen" zur DDR aufzunehmen. "Zu keinem Menschen" durfte dieser Beauftragte – der sich dennoch der Stasi offenbarte – darüber reden.

 

Aufgabenteilung nach dem Muster der Wehrmacht

 

1956 konferierte er mit dem westdeutschen Finanzminister Fritz Schäffer in Berlin-Schmöckwitz über die deutsche Wiedervereinigung.

Nach seiner Pensionierung im Februar 1958 hielt Müller offenbar seine Westverbindungen aufrecht. Manche Westdeutsche, darunter entschiedene Antikommunisten, setzten politische Hoffnungen in den Stabschef der NVA. In einem westdeutschen Privatbrief an die "Freunde in Schmöckwitz" stand zu lesen, daß "dem Ausland bei jeder Gelegenheit" klar zu machen sei, "daß die beiden Teile Deutschlands sobald wie möglich wieder vereint werden müssen". Bemerkenswert ist eine Stasi-Mitteilung von 1956, die eine politisch "heimatlose" westdeutsche Antikommunistin betraf. Sie verstehe sich als "wütende Gegnerin Adenauers" und nenne den westdeutschen Außenminister Brentano einen "dämlichen Kerl". Sie glaube, "daß die Generale in beiden Teilen Deutschlands die Dinge einmal in die Hände bekommen, um Fachleute auf allen Gebieten einzusetzen". Diese Frau wechselte Briefe mit Vincenz Müller, den sie zu ihrem Bedauern unlängst nicht in Weimar getroffen habe.

Geradezu sensationell erscheint ein Telegramm, das im Januar 1960 von Hannover aus an die Stasi geschickt wurde: "Als sowjetischer Staatsangehöriger fordere ich die sofortige Verhaftung von Vincenz Müller wegen Landesverrats. Stichwort Korpuskularstrahler. Weitere Angaben bei mir erhältlich ebenso Sicherstellung der Akten (…) auf die Telegramme an Ulbricht wird verwiesen (…) Benachrichtigung des Zentralkomitees in Moskau ist erforderlich". Aus den Stasi-Unterlagen geht nirgends hervor, was mit "Landesverrat" konkret gemeint ist. Müllers Westbeziehungen sind hier zu bedenken, eventuell auch Fluchtgedanken des ehemaligen Stabschefs. Ging es hier um die eingangs erwähnte "Yorcksche Tat"? Gedachte er die Rolle eines zweiten Wallenstein oder Schleicher zu übernehmen – eines Generalissimus also, der die politische Zerklüftung und Fremdbeherrschung Deutschlands beseitigte? Hat es Müller als Widerspruch empfunden, daß er dem Ost-Berliner Regime Hilfsdienste leistete, gleichzeitig aber die deutsche Wiedervereinigung anstrebte? Sah Müller in der KVP/NVA gar den Keim einer nationaldeutschen Armee?

Am wahrscheinlichsten dürfte sein, daß Müller eine in sich gespaltene Persönlichkeit war. Bis zu einem gewissen Grad stützte er Ulbrichts Clique, hielt sich aber jederzeit eine Hintertür nach Westen offen. Zumindest fand die SED-Herrschaft nie sein vorbehaltloses Einverständnis. Gelähmt wurde Müller durch die Behauptung, daß er in Rußland an der Erschießung von 90.000 Juden bei Artemowsk beteiligt gewesen sei. Laut Stasi-Akte lag deshalb Anfang der fünfziger Jahre in Westdeutschland ein Haftbefehl gegen ihn vor. Der Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigung ist völlig ungeklärt.

 

"Generale sollen die Dinge in die Hand nehmen"

Seit 1960 versuchte die Stasi, den unliebsamen Rentier ohne Getöse auszuschalten. Es hieß, Müller leide an Schizophrenie. Mutmaßlich auf Druck der Stasi kam er Ende 1960 für einige Monate ins Krankenhaus. Das furchtbare Ende ließ nicht lange auf sich warten.

Am 12. Mai 1961, genau an dem Tag, als er gegen seinen Willen erneut ins Hospital sollte, stürzte sich Vincenz Müller vom Balkon seines Schmöckwitzer Hauses und starb wenig später. Ob ihn Stasi-Leute am 12. Mai hatten abholen wollen, wie seinerzeit manche aussagten, darüber schweigen die Dokumente.

Wie so vieles bei ihm bleiben auch die genauen Umstände seines Todes im Halbschatten. Drei Monate nach dessen Ableben wurde die Berliner Mauer gebaut. Endgültig war die Zeit des Vincenz Müller abgelaufen.


 
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