© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Stammtische
von Klaus Motschmann

In letzter Zeit ist viel vom Stammtisch die Rede. Warum nicht auch einmal an dieser Stelle? So schlecht ist er bekanntlich nicht! Also – "Kenn’ Sie den schon?": Ein stattlicher junger Mann kommt zu seinem Schneider zur Anprobe und muß feststellen, daß der in Arbeit befindliche Anzug überhaupt nicht paßt. So ist es auch nach der zweiten und dritten Anprobe: Inzwischen hat ihn aber der Schneider überzeugt, daß er nur ein wenig seine Körperhaltung ändern müsse, um den gewünschten Effekt zu erzielen; der Mann möge doch den Bauch ein wenig einziehen, sich stärker nach vorne beugen, die linke Schulter etwas anheben und nur kurze Schritte machen. Tatsächlich paßt der Anzug bei Beachtung dieser Empfehlung tadellos. Der Mann kauft ihn und behält ihn auch gleich an. Auf der Straße erregt er nach kurzer Zeit auch die Aufmerksamkeit zweier junger Damen: "Ist es nicht traurig, wie verkrüppelt dieser gutaussehende Mann ist", bedauert ihn die eine. "Das schon", pflichtet ihr die andere bei, "aber hat er nicht einen ausgezeichneten Schneider?" Läßt sich die Situation vieler Menschen in unserem Volke treffender charakterisieren als mit diesem Stammtisch-Witz? Man sollte den Leuten schon etwas häufiger "aufs Maul schauen", um ihre Bedürfnisse, ihre Probleme und ihre Erwartungen zu verstehen. Deshalb also etwas weniger Arroganz in der Beurteilung der Stammtische: Politische Willensbildung vollzieht sich eben auch dort und nicht nur an den grünen Konferenzen in Brüssel und Straßburg, an den vielzitierten "Runden Tischen" oder in den Vorstandsetagen der sogenannten Volksparteien. Dort sollte man sich endlich wieder daran erinnern, daß es nicht auf die ideologischen Schnittmuster irgendwelcher Zuschauer ankommt, sondern auf die konkreten Probleme wirklicher Menschen. Ist inzwischen alles vergessen, was von der sogenannten progressiven Linken gegen die "Erziehung zur Anpassung" und über die Notwendigkeit des "aufrechten Ganges" gesagt worden ist¹. Aber wie dem auch sei: Warum wird heute mit einer Rücksichtslosigkeit sondergleichen abermals "Anpassung" propagiert und praktiziert und den Menschen eine Haltung abverlangt, die einen "aufrechten Gang" nicht mehr ohne weiteres gestattet. Die Antwort findet sich bei Bert Brecht in den "Geschichten vom Herrn Keuner": Es handelt sich gewissermaßen um die intellektuelle Variante des Themas: "Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn sie einen Menschen lieben?" – "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., "und sorge dafür, daß er ihm ähnlich wird." – "Wer? Der Entwurf?" – "Nein", sagte Herr K., "der Mensch."


 
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