© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/97  31. Oktober 1997

 
 
Kolumne
Selbstgefährdung
von Heinrich Lummer

Als Willy Brandt mehr Demokratie wagen wollte, hatten wir eher schon zuviel davon. Das klingt gewagt, ist es aber nicht. Damals dachte man noch an die "Durchdemokratisierung" aller gesellschaftlichen Bereiche – inklusive Schule, Polizei, Armee und Kirche. Aber eine Demokratie kann durchaus damit leben, wenn einige Bereiche nicht demokratisiert sind.

Ja, wenn man das tun würde, setzte sich die Demokratie einer Selbstgefährdung aus. Mehrheitsentscheidungen in der Schule und auch in der Hochschule sind in Wahrheit widersinnig. Die Funktionsfähigkeit bestimmter Institutionen hängt gerade davon ab, daß sie nicht "durchdemokratisiert", sondern eher von hierarchischer Struktur gekennzeichnet sind.

Theodor Litt hat einmal warnend von der Selbstgefährdung der Freiheit gesprochen. Freiheitlich-demokratische Staaten neigen dazu, die Freiheitsräume immer weiter auszudehnen. Je mehr er hat, je mehr er will, ist eine sprichwörtlich zutreffende Beschreibung menschlicher Natur. Aber dadurch wird nicht nur der Freiraum der Gutmenschen ausgedehnt, sondern auch die Freiheit der Bösen.

Die organisierte Kriminalität nützt alle Spielräume, um unseren Staat aufs Kreuz zu legen oder zu korrumpieren. Überzogener Datenschutz, Verzicht auf erkennungsdienstliche Maßnahmen bei Asylbewerbern, mangelnde Kontrollen im Sozialbereich, übertriebener Schutz vor Abschiebung etc. hindern den Staat daran, individuelle Freiheit auf der einen und Gemeinwohl auf der anderen Seite wieder in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen.

Wer die organisierte Kriminalität erfolgreich bekämpfen und den Mißbrauch des Sozialstaates beseitigen will, der muß Maßnahmen ergreifen, die überall als Einschränkung demokratischer Freiheiten oder gar der Grundrechte verstanden werden. Die Methoden der Verbrechen zwingen den Staat zu angemessenen Antworten und bestimmen insofern zum Teil das Gesetz des Handelns. Leider.

Niemand sollte die "brachiale Stimmung" (Voscherau) im Lande unterschätzen, die aus der Kenntnis des ständigen und umfassenden Mißbrauchs unseres Sozialstaates entsteht. Wenn sich dann noch die großen etablierten Parteien als partiell handlungsunfähig erweisen, dann ist Gefahr im Verzuge. Die Selbstgefährdung unserer freiheitlichen Struktur ist überall spürbar. Und die Bürger warten. Wer möchte sich schon mit Hölderlin trösten, der meinte: "Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch."


 
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