© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/97  31. Oktober 1997

 
 
Grass-Kritik: Nachtrag zu einer deutschen Debatte
Blech aus der Trommel
von Ilse Meuter

Die diesjährige Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sorgte für einigen Medienwirbel. Auch heuer ließ eine honorige Jury die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht ungenutzt. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern: Der längst vergessene Rummel eines vergangenen Buchmessen-Jahres drehte sich um die emeritierte Islamistik-Professorin Annemarie Schimmel, eine der wenigen deutschen Gelehrten von Weltruf. Das immergleiche viertelgebildete Berufsentrüstertum glaubte, der rüstigen Betagten zu große geistig-politische Nähe zu orientalischem Denken und muslimischer Kultur vorwerfen zu sollen. Das mokante Aperçu Gremlizas: "Freiheit ist immer die Freiheit von Radio Luxemburg" wurde unter der Hand zum Zelotencredo, "richtige" Kultur sei eigentlich bloß die des demokratischen Westens.

Die diesjährige Verleihung paarte ein ganz und gar eigenartigs Duo: Hier Günter Grass, siebzig und kein bißchen weise, wiewohl bloß Laudator, doch der eigentliche Star der Feierlichkeit; er selbst kokettiert mit seiner landsmannschaftlichen Abkunft und nennt sich einen "Wasserpolacken". Dort Kemal, der fünfundsiebzigjährige Bergtürke – so die türkische Bezeichnung für jene Menschen, die partout Kurden genannt sein wollen.

Wasserpolack preist Bergtürken, und das in Europas Finanzmetropole, dem Auge des Globalisierungstaifuns, der dabei ist, all das wegzuschleifen, was dem ein wenig naiv anmutenden "Märchen- und Mythensammler aus Passion" zum reputierlichen Preis des deutschen Börsenvereins verhalf.

Projiziert man als kühler Beobachter der Szene das, wofür Kemals Autorschaft ausgezeichnet wurde, auf das "Land der Dichter und Denker" (deutsche Eigenwerbung vor 1945), bekommt das Frankfurter Ereignis etwas Gespenstisches: Man stelle sich vor, ein Literat deutscher Zunge zöge durch die Lande, um "Volksgut" zu sammeln, "Heldenlieder" und "Taten des Volkes" aufzuschreiben, auf daß die "vom Untergang bedrohte Kultur" seines eigenen "Volkes" gerettet werde. Verächtlichmachung bis zum Rufmord wäre ihm aus tausend Redaktionsstuben sicher – ein Fall für den Verfassungsschutz. War schon zu 68er-Zeiten der Kampf des kubanischen Volkes gut, der des deutschen aber böse, exakt so tönt es fort und fort. Erst nach dem beruflichen Ausscheiden der 68er-Riegen und ihrer jüngeren Nachzucht kann hier Besserung, sprich: Normalisierung, eintreten.

Neben dieser Art von inversem Ethno-Chauvinismus zugunsten Fremder ist ein zweites bemerkenswert: von Richelieu bis Thatcher reicht das kritische Spektrum jener, denen ins Auge fiel, daß "die Deutschen sich nicht selbst regieren möchten". Es war und ist nicht leicht, mit den Deutschen (einen) Staat zu machen, denn wie ein störrisches Roß treten sie nach jedem, der ihnen die dazu nötigen Haltungen abverlangt. Grass’ Laudatio war ein Paradebeispiel dafür. Erstens instrumentalisierte er grobianisch-teutsch den Anlaß für eigene Zwecke, ließ Kemal Kemal sein und polterte los – wie stets "aus Haß gegen das Eigene" (Botho Strauß). Zweitens aber übte er Schelte, und zwar nicht so sehr Deutschen- als vielmehr Staatsschelte, denn er sprach der derzeit verantwortlichen Regierung schlicht die Legitimität zur politischen Führung ab. Und berief sich keineswegs auf das positive Recht des demokratischen Verfassungsstaates, auf das aus gesellschaftlich-nationalem Konsens fließende, den inneren Frieden sichernde "Verfahren". Nein, geradezu urewig gestrig berief sich der telegene Schnauzbart auf ein übles deutsches Erbteil, auf Innerlichkeit, "Gefühl", den "guten Willen" und das hehre Streben jenes Einzelnen, der heutzutage als das Plurale tantum "die Menschen" figuriert.

Zuvor schon ließ die rührselige Schein-Überraschung auf Grassens Geburtstagsfeier, das Einfliegen des anglo-indischen Literatur-Polit-Stars Rushdie, erkennen, daß da zumindest ein literarischer Schoß sei, der fruchtbar noch ist: der deutsche Hang zur Irrationalität, zu Kohlhaasens Furor der irdischen Gerechtigkeit, zum "Hier steh’ ich, ich kann nicht anders – Gott helfe mir!"

Mit solcherart kulturell bewaffneter Gesinnungsaggressivität ist auch und besonders im Jahre 1997 kein Staat zu machen, zum wenigsten ein nüchterner, nonideologischer, zukunftsorientierter. Staat muß gerade unter Deutschen an den besten Antrieben der endlich über sich selbst aufgeklärten Aufklärung gemessen werden, er muß sich den maßvoll-kühlen Blick zivilisierter Standards zu eigen machen, sich dem Wert der europäischen Moderne verpflichten. Ein patriotisch handelnder deutscher Dichter wird die ohnehin prekär gewordene Welt der Bürger, der vielbeschworenen Citoyens, nicht durch Unmaß und jakobinisches Wüten aus Tugend destabilisieren wollen, vielmehr hätte er den Grundwertekatalog des immer noch christlich fundierten Westens beim Portepee zu fassen.

Grass und Kemal sind, jeder auf seine Art, Männer von gestern und gegenwärtig bloß im Big book business, wo es, wie anderwärts, heißt: The show must go on. Da stolziert ein ebenso risikolos wie kalkuliert geifernder Auflagen-Kaiser nackend zu Frankfurt einher, Rita Süssmuth aber, Bundespräsident Roman Herzog und weitere handverlesene Zeugen der Poeten-Posse tun, als merkten sie nichts davon.


 
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