© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/97  07. November 1997

 
 
Ernst Günther Schenk: Nie mehr nach Hause? 10 Jahre in sowjetischer Gefangenschaft
Der Schwur von Friedland
von Claudia Wollner

Wahrscheinlich empfanden die zum Abtransport Bestimmten gar nichts mehr, nicht Verzweiflung, nicht Trauer, nicht Entsetzen. Aber sie waren doch alle meine Kranken, meine Leute gewesen, ich ihr Arzt, ein Mann wie sie, für sie. Nichts konnte man doch für sie tun. Schon gingen sie wie im Gleichschritt; ohne es zu wissen oder zu merken, ordneten sie sich ein. Nur ein paar Meter noch waren sie entfernt, ich stand über ihnen auf einem kleinen Hügel. Da wußte ich, was zu tun war. Ich nahm Haltung an, wie ich es niemals vor einem Dienstherrn getan hatte. Alle Muskeln, die ich noch hatte, spannten sich, und während mir die Tränen über die Backe liefen, legte ich die linke Hand an die Seite des Kittels und salutierte mit der Rechten."

Insgesamt zehn Jahre verbrachte Ernst Günther Schenck als Wissenschaftler, als gewöhnlicher Sträfling und als Lagerarzt in verschiedenen sowjetischen Gefangenenlagern. Zehn Jahre Trostlosigkeit, Hunger, Ausgeliefert-sein. Dennoch Würde und Menschlichkeit bewahren? Schenck hat es versucht. Nicht nur seinen damaligen Mitgefangenen gegenüber.

Dem Theologieprofessor Heinrich Kühle, erbitterter Gegner des Nationalsozialismus, dennoch seit 1939 Armeepfarrer und als solcher 1944 in russische Gefangenschaft geraten, vertraut Schenck sein Wissen um Dinge an, die ihn bedrücken. Aufgrund englischer Rundfunkmeldungen, in Auschwitz würden Zigeuner verhungern, hatte Schenck im Oktober 1942 von Himmler den Befehl bekommen, das Lager zu inspizieren. "Und während ich ihnen (den Zigeunerfrauen) entgegenging, öffneten sie die Bündel, schoben die farbigen Schals zurück und zeigten mir ihre Säuglinge nackt – kleine ausgemergelte Leiber mit Greisenköpfen und den großen Augen der Verhungernden … Angesichts dessen, was die Mütter mir dargeboten hatten, wollte ich meinen Auftrag nicht nur wörtlich, sondern buchstabengetreu ausführen – selbst wenn er vielleicht gar nicht so gemeint war." Statt der für Säuglinge und Kleinkinder ungeeigneten Erwachsenennahrung mit Kohlsuppe und dergleichen sollen sie spezielle Kindernahrung erhalten, verspricht Schenck. "Da sah ich zu meinem Erstaunen die Zigeuner in dichten Scharen auf dem Appellplatz versammelt. Bangen und Verzweiflung schienen in den Hintergrund getreten zu sein; es war, als ob sich bei ihnen etwas verändert habe. ‘Dürfen wir dem Herrn Offizier aufspielen? Es wäre eine große Ehre.’ Die Bitte war Probe auf’s Exempel und, würde ihr stattgegeben, Beweis, daß sie hoffen könnten, daß sie noch Menschen seien. Ich nickte und sagte: ‘Danke, ja.’ Es mußte ein besonderes Lied sein, erfüllt von solcher Trauer und Sehnsucht, und wiederum von solchem Feuer, daß die Spieler und dann auch ihre Zuhörer in eine zunehmende Ekstase gerieten. Sie vergaßen sich und alles um sich und begannen den Tanz, in den vom inneren Kreis her nach außen greifend einer nach dem anderen, schließlich alle einbezogen wurden. Sie zauberten eine Hoffnung zurück, die sie schon verloren glaubten. Sie spielten sich in ein anderes Leben hinein."Aus den Militärbeständen der Waffen-SS (Schenck ist zu dieser Zeit verantwortlich für die Lebensmittelversorgung der gesamten Wehrmacht) läßt er Milchpulver, Grieß, Haferflocken nach Auschwitz bringen.

Neben Zivilisten aus Ostpreußen, Schlesien, Rumänien begegnet Schenck auch einer Gruppe von etwa 100 Juden, die nach 1933 ins Baltikum emigriert waren. Nach der sowjetischen Annexion der baltischen Staaten als Spione und unzuverlässige Elemente gebrandmarkt, hatten sie die vergangenen elf Jahre in unzähligen Lagern verbringen müssen. Mit einem von ihnen, Siegfried Maier aus Breslau, kommt es zum offenen Gespräch. Ob denn all das stimme, was ein russischer Kommissar von deutschen Greueltaten an Juden erzählt habe, fragt er Schenck. "Weil wir Ungesagtes verstehen lernten, wissen wir viel mehr als gesagt wird. Die deutschen Juden kamen um; man hat sie getötet – ob alle oder nicht alle, das ist im Grunde so gleichgültig wie ihre Anzahl und ob der Kommissar übertrieb oder sich an die ihm genannten Zahlen hielt. Auschwitz und seine Nebenstädte waren Mord, waren Vernichtung." "Haben Sie mitgemacht, Herr Doktor, weil Sie Auschwitz kennen?" "Hätte ich als Beteiligter mehr gewußt, als ich aus der Ferne nur dumpf erahnte, hätte ich irgendwo Todeskandidaten von Arbeitsfähigen getrennt oder überhaupt nur einen Juden zum Tode gebracht – hätte ich dann wohl mit Ihnen gesprochen, wie ich’s tat?" Er müsse leider Abschied nehmen von der Hoffnung, seine Verwandten könnten noch leben. Doch "die Vorstellung, zu den Letzten zu gehören, kann so stärken, daß man weiterleben muß … Will man helfen, so muß man aufrichtig sein."

Als Mitglied einer "verschlissenen und zu Fehlhandlungen geführten Generation" fühlt sich Schenck am Ende des Krieges "getäuscht, verkauft, im Stich gelassen. Nun spürte ich am eigenen Leib und tausendfach mehr an den um mich Zusammengedrängten das furchtbare Ende eines Beginnes, an dem ich zunächst halbherzig, dann überzeugter teilgenommen hatte." Schenck bleibt in Berlin und wird, da kein höherer Dienstgrad mehr aufzutreiben ist, zum Verpflegungsintendanten der Stadt bestimmt. "Je trauriger und aussichtsloser die Lage, mit desto größerer Wut versuchte ich, sie zu ändern. Man glaubt ja immer, man könne es." Seit einem Hungererlebnis im Ersten Weltkrieg sei es ihm darum gegangen, den Hunger zu bekämpfen. "Für mich gab es keinen anderen Feind als ihn. Meine Linien verliefen ganz anders als die offiziellen, die uns aufdiktiert wurden und werden." Um so empfindlicher trifft ihn die Aussage des sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin anläßlich des Moskau-Besuches von Konrad Adenauer im September 1955: "Das sind Menschen, die ihr Menschenantlitz verloren haben. Das sind Gewalttäter, Brandstifter, Mörder von Frauen, Kindern und Greisen." Dennoch: "Rachegefühle überlassen wir den rückwärts gerichteten, unschöpferischen, eingleisigen Hassern und Organisationsdrohnen. Wir wollen positiv arbeiten, unser Leben aufbauen, unserem Volk nützen" – mit dieser Zusage brechen Schenck und seine Kameraden aus Rußland auf. Und beim Eintreffen im Lager Friedland ist Schenck es, der für die Angekommenen das Wort ergreift. "Da stand ich – und wurde in einem Augenblick vom Sprecher meiner Männer zu ihrem Munde; Mut flog mir zu, und ich wagte das Außergewöhnliche, den Schwur: ‘Vor dem deutschen Volk und bei den Toten der deutschen und sowjetischen Wehrmacht schwören wir, daß wir nicht gemordet, nicht geschändet und nicht geplündert haben.’ Ich schaute über alle hin; gleich mir hatten alle in diesem Augenblick, da wir uns bloß und nackt fühlten und nichts mehr verhehlten, die Schwurhand gehoben."

Schencks Schilderungen bedienen weder die Erwartungen derjenigen, die vielleicht NS-Nostalgie erhofft hatten nach dem Motto: Die Bösen sind ja doch die anderen – noch die Erwartungen derer, die im nachhinein in selbstgerechter Überheblichkeit vom bequemen Schreibtischsessel aus Widerstand leisten und denen alle, die je in irgendeiner Weise mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, als die Verkörperung des Bösen schlechthin gelten. Trauer über die eigene Verstrickung ebenso wie über erlittenes Unrecht spricht aus dem Erzählten, Achtung vor den Menschen und Liebe zum eigenen Volk. Schenck ist Arzt mit Leib und Seele. Vielleicht kann sein Buch dazu beitragen, die deutsche Neurose zu heilen.

Ernst Günther Schenck: Nie mehr nach Hause? Als Wissenschaftler, Sträfling und Arzt 10 Jahre in sowjetischer Gefangenschaft. Neuauflage von "Woina Plenni" (1986), S. Bublies Verlag, Koblenz1997, 446 Seiten, 38 Mark


 
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