© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/97  07. November 1997

 
 
Humane Ideen
von Klaus Motschmann

Nach einem Wort Kurt Tucholskys ist es die Aufgabe des Marxismus, "zu zeigen, wie alles kommen muß – und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte". Nun ist es (zunächst einmal) nicht so gekommen, wie es nach dem Dogma des wissenschaftlichen Sozialismus vom vermeintlich gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte hätte kommen müssen: zu einer revolutionären Umgestaltung des kapitalistischen Systems. Mit dem Fall der Mauer in Berlin am 9. November vor acht Jahren wurde vielmehr der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems eingeleitet, der sich dann auch rasch vollzogen hat. Damit stellte sich die zweite Aufgabe des Marxismus: "zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte". Es konnte nicht so kommen, weil die "humane Idee" des Sozialismus entartet und das nach wie große Ziel der Befreiung der Menschheit vom Joch unmenschlicher Gesellschaftsordnungen auf falschen Wegen angestrebt worden sei. Es geht also nicht um die Idee und das Ziel, sondern lediglich um den Weg zu diesem Ziel, um die effektiveren Methoden der Verwirklichung der "humanen Idee".

Damit bestätigt sich ein weiteres Mal in der Geschichte der komplette Realitätsverlust intellektualisierter Meinungsmacher, gegen die kaum jemand schärfer gewettert hat als Karl Marx. Sie sind freilich in allen politischen und gesellschaftlichen Lagern anzutreffen. Man erinnere sich nur der Propaganda-Parole, die Joseph Goebbels im letzten Kriegsjahr in den zerbombten deutschen Städten anbringen ließ: "Unsere Mauern mögen brechen, unsere Herzen brechen nicht". Eine einprägsame Erklärung für die Unfähigkeit, sich an der Wirklichkeit zu orientieren und statt dessen (v)ideologischen und (tele-)visionären Gesellschaftsmodellen verhaftet zu bleiben, hat Friedrich Nietzsche gegeben: "Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn auch immer wieder für wahr halten." Viele Menschen, namentlich viele in Deutschland haben die marxistischen Glaubenssätze nötig, weil nach 30 Jahren Kulturrevolution grundsätzliche Kritik am Marxismus nicht mehr möglich ist, auch deshalb, weil sie ein "Indiz auf den Hitler in uns" sein soll. Aus diesem Befund ergeben sich Hoffnungen: kurzfristig für politische Linke. Sie können ungehindert weiter "marxieren"; langfristig jedoch für unser Volk, weil die Wirklichkeit sich auf Dauer nicht durch ideologische Nebelwände verhüllen läßt und zur Umkehr aus den ideologisch-politischen Sackgassen zwingt.


 
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