© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/97  14. November 1997

 
 
Nemmersdorf: Neue Aspekte eines Verbrechens
Eines der düsteren Kapitel
von Thorsten Hinz

 Das ostpreußische Nemmersdorf (Kreis Gumbinnen) taucht in jeder halbwegs objektiven Geschichtsschreibung über die Spätphase des Zweiten Weltkriegs auf, auch außerhalb Deutschlands. Am 21./22. Oktober 1944 wurde Nemmersdorf als einer der ersten deutsche Orte von der Roten Armee eingenommen. Einen Tag später schlug die Wehrmacht die Rote Armee noch einmal zurück und fand Opfer eines Massakers, vor allem Frauen und Kinder, vor. "Nemmersdorf" wurde zum Fanal der Flucht und der Untaten der Roten Armee an der ostdeutschen Bevölkerung.

Der US-Völkerrechtler Alfred M. de Zayas nennt Nemmersdorf "eines der am besten belegten Beispiele russischer Greueltaten im zweiten Weltkrieg". Der italienische Historiker Marco P. Chiodo leitet sein Buch "Sie werden die Stunde verfluchen…" über "Sterben und Vertreibung der Deutschen im Osten" (1987, dt. 1990 im Herbig Verlag) mit einer Schilderung der Nemmersdorfer Greuel ein. Die Quellen sind seit den vierziger und fünfziger Jahren konstant. Vor allem bezieht man sich auf die Aussagen des aus Königsberg stammenden Volkssturmmannes Karl Potrok, der in der Dokumentation "Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße" des Bundesvertriebenenministeriums 72 Tote angab. Sechs Frauen seien nackt gekreuzigt worden (vier an einem Leiterwagen, zwei an einem Scheunentor). Einer blinden Greisin sei mit einer Axt oder einem Spaten der Schädel gespalten, alle weiblichen Opfer seien vergewaltigt worden. Dem Protokoll Potreks werden Aussagen von Dorfbewohnern, Soldaten, Offizieren (darunter des Stabchefs der 4. Armee in Ostpreußen, Generalmajor Dethleffsen) und Korrespondentenberichte der norwegischen Zeitung Fritt Folk vom 6. und des Genfer Courier de Genève vom 7. 11. 1944 zur Seite gestellt. "Nemmersdorf" ist in der Historiographie eine feste Größe.

Daher ist damit zu rechnen, daß das eben erschienene Büchlein "Nemmersdorf, Oktober 1944 – Was in Ostpreußen wirklich geschah" (edition ost, Berlin 1997, 14,90 DM) des promovierten Hobbyhistorikers Bernhard Fisch Aufmerksamkeit erregen wird. Der gebürtige Ostpreuße (Jahrgang 1926) hat neue Quellenstudien, Ortsbesichtigungen Zeugenbefragungen durchgeführt. Eine persönliche Betroffenheit ergibt sich, weil er als Soldat am 25. Oktober 1944 auf der Suche nach Proviant zufällig in Nemmersdorf war und seine Eindrücke sich von den Bildern der Wochenschauen unterschieden. Er hat auch russische Gefechtsprotokolle gesichet. Fischs Darstellung liest sich wie ein Krimi und enthält einige Abweichungen von den bisherigen Nemmersdorf-Berichten.

Fisch teilt eingangs den Obstruktionsversuch seiner Recherchen durch einen "Vertriebenenfunktionär" der Landsmannschaft Ostpreußen mit. Längst nicht alle aus dem überschaubaren Kreis der Nemmersdorfer Ortszeugen – von denen einige noch lebten – seien befragt worden. Im Kreisarchiv Gumbinnen lag ebenfalls noch ein unausgewerteter Bericht. Außerdem sei eine Quellenkritik bislang unterblieben. Einige Berichte seien Fälschungen oder beruhten in Wahrheit auf Hörensagen, da die Zeugen nachweislich nie in Nemmersdorf gewesen oder schon früher geflüchtet waren. Als merkwürdig stuft er ein, daß bislang niemand sich der Mühe unterzogen habe, die Leichen auf dem Fotomaterial vom Oktober 1944 zu identifizieren.

Bei den ausländischen Zeitungsartikeln, so Fisch, könne es sich nicht um Augenzeugenberichte gehandelt haben. Diese Presseorgane hätten im übrigen den Nationalsozialisten zumindest nahegestanden. Wie Fisch errechnete, hätten die Korrespondeten frühestens eine Woche nach dem Massaker vor Ort sein können. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie aber nicht mehr – wie dargestellt – Ermordete in den Wohnungen vorgefunden haben. Außerdem seien Vewüstungen in den Nemmersdorfer Häusern (wie eine Beschwerde des ostpreußischen Oberlandesgerichtspräsidenten dokumentiert) auch durch einquartierte deutsche Soldaten erfolgt.

Frontal zieht Fisch den Augenzeugenbericht von Karl Potrek in Zweifel. Dieser hatte angegeben, die Leichen seien zunächst bestattet worden und nach Ankunft einer Untersuchungskommission der Wehrmacht wieder exhumiert worden. Dem widerspreche aber der Anblick der fotografierten Leichen. Die gekreuzigten Frauen hätte nicht einmal der Völkische Beobachter erwähnt. Die Scheune am Ortseingang, an deren Tore zwei (von insgesamt sechs) nackte Frauen genagelt worden seien, habe es gar nicht gegeben. Auf den Fotos seien zudem alle Leichen bekleidet. Auch von einem geschlossenen Treck, der in Nemmersdorf von den Russen überrollt werden konnte, habe kein anderer Zeuge gesprochen. Daß der ermordeten alten Frau der Schädel gespalten worden sei, diese neue Grausamkeitsstufe taucht erst in Potreks Bericht 1953 auf. Andererseits verrate Potreks Bericht eine Orts- und Personenkenntnis, die er als Ortsfremder nicht haben konnte. Potrek, darauf läuft Fischs Argumentation hinaus, habe seine Erinnerungen mit schon vorliegenden Berichten und Artikeln aus dem Völkischen Beobachter, wo allgemein von "Durchstoßmerkmalen an beiden Handflächen" eines alten Mannes die Rede war (allerdings an einem anderen Ort), vermischt. Auch die behauptete Identifizierung der Toten als Nemmersdorfer durch eine Dorfbewohnerin habe es so nicht gegeben.

Außerdem seien Obduktionen unterblieben, so daß man nicht in jedem Falle feststellen konnte, welcher Tote etwa während Kampfhandlungen umgekommen war. Für verbürgt hält Fisch in Nemmersdorf zwei Dutzend Opfer, von denen die meisten zweifelsfrei durch Genick- und Kopfschüsse hingemetzelt worden waren. Die Goebbels-Presse hätte die Toten und Greuel von mehreren ostpreußischen Orten unter "Nemmersdorf" summiert, um die propagandistische Wirkung zu erhöhen.

Um diese sei es im Herbst 1944 gegangen. Wie Fisch anhand von Akten des Reichssicherheitshauptamts und des Propagandaministeriums analysiert, habe 1944 in der deutschen Bevölkerung eine kapitulationsbereite Stimmung geherrscht. Die Nemmersdorf-Berichte sollten die Notwendigkeit eines Kampfes auf Leben und Tod verdeutlichen.

In russischen Militärberichten habe man sich verwundert geäußert, daß die deutschen Soldaten anstatt die vorbereiteten Verteidigungsstellungen zu beziehen, die eigenen Geschütze in einer durchaus noch nicht hoffnungslosen Situation zerstört hatten, wodurch der Durchbruch nach Nemmersdorf sich beschleunigte. Hier insinuiert Fisch zumindest, daß das Absicht gewesen sein könnte. Nicht nur diese Passage könnte lebhafte Diskussionen auslösen.

Das Buch stellt mitnichten eine "Revision" des Nemmersdorf-Verbrechens dar, sondern konkretisiert es möglicherweise, und eine Diskussion darüber könnte ein Beispiel souveränen Umgangs mit eigener Geschichte sein. Es mag erstaunen, daß ausgerechnet Ralph Giordano in einem Nachwort die richtigen historischen Relationen herstellt: "Nemmersdorf" sei nur Synonym für "unzählige Ereignisse" beim Einmarsch der Roten Armee im Osten gewesen, der "zu den düstersten Kapiteln in der Kriegsgeschichte der Menschheit" zähle. Und: Die Verbrechen an Deutschen verdienten unter Berücksichtigung von Chronologie und Kausalität genausoviel Öffentlichkeit wie die von Deutschen. Sein Wort in Gottes Ohr!


 
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