© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/97  21. November 1997

 
 
Wirtschaftskrise: Die soziale Amerikanisierung Deutschlands
Billigjobs als Notlösung
von Michael Wiesberg

Rund 17 Prozent oder jeder fünfte abhängig Beschäftigte in Deutschland arbeitet derzeit in einem sogenannten "610-Mark-Job". Parallel dazu ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen 1992 bis 1997 von 29,3 auf 27,3 Millionen Arbeitnehmer gesunken. Ein immer größerer Teil der Beschäftigung in Deutschland ist demnach nicht versicherungspflichtig. Diese Zahlen verdeutlichen vor allen Dingen eines - immer weniger abhängig Beschäftigte werden immer mehr zahlen müssen, wenn die Sozialversicherungssysteme weiter funktionsfähig bleiben sollen. Wer glaubt, daß etwa der Beitrag zur Rentenversicherung, der Anfang 1998 den Höchststand von 21 Prozent erreichen wird, deutlich zurückgeführt werden könnte, sitzt nicht nur wegen der demographischen Verschiebungen, die Deutschland jenseits des Jahres 2000 ins Haus stehen, einer Illusion auf. Es ist vielmehr damit zu rechnen, daß die Rentenbeiträge weiter steigen werden - bei gleichzeitiger "Absenkung" des Rentenniveaus. Welche Auswirkungen die neuerliche Erhöhung der Rentenversicherung auf die Unternehmen und damit auf den Arbeitsmarkt haben wird, ist noch gar nicht abzusehen. Experten sehen einen Grund für diese dramatische Entwicklung in der Flucht aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung. In der Tat: Je höher die Beiträge zu den Sozialversicherungen steigen, desto höher wird der Anreiz, auszusteigen. Kann dieser Entwicklung überhaupt noch Einhalt geboten werden? Oder muß die Erosion des deutschen Sozialstaates als eine der Folgen der sogenannten "Globalisierung der Märkte" begriffen werden, die als "Schicksal" hingenommen werden muß? Viele schließen sich dieser Lesart an und fordern "Strukturreformen", damit der "Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfähig" bleibt. Andere erwarten das Heil vom Euro, übersehen dabei aber, daß der Euro die Probleme noch einmal verschärfen wird. Sollten bereits diese Auswirkungen des Euro zu denken geben, dann gilt dies erst recht für die im Dezember 1995 zwischen der EU und der USA vereinbarten "Transatlantischen Agenda", die die Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone zum Ziel hat. Ganz offen räumt die Bundesregierung ein, daß bei Schaffung dieser Freihandelszone der "Außenschutz für viele Erzeugnisse entfallen" werde. Mit noch mehr Arbeitslosigkeit muß also gerechnet werden. Dieser Hintergrund macht einen grundlegenden wirtschaftspolitischen Wandel in Deutschland unumgänglich.

Noch hält man sich in Bonn mit der Frage bedeckt, von welchen Prinzipien genau dieser Wandel bestimmt sein soll. Das Bekenntnis zum "Sozialstaat" gehört immer noch zum rhetorischen Repertoire der meisten Bonner Politiker. Wer deutlicher hinschaut, dem bleibt nicht verborgen, daß die FDP sich zunehmend als Taktgeber des "Strukturwandels" nach US-amerikanischem Muster geriert. Die Unionsparteien mimen zwar noch die Erben Erhards, nehmen aber peu à peu die neoliberalen FDP-Forderungen auf, um ihre "Reformfähigkeit" zu dokumentieren. Keine Frage: Der Sozialstaat, der oft zur "sozialen Hängematte" pervertiert ist, muß reformiert werden. Abschied von der "Sozialen Marktwirtschaft", die auf dem Prinzip Solidarität auf nationaler Grundlage basiert, darf aber dabei nicht herauskommen. Sollte sich das amerikanische Prinzip durchsetzen, dann steht den deutschen Arbeitnehmern - analog zu den USA - das Schicksal der "Arbeitsnomaden" bevor. Sie werden dorthin ziehen müssen, wo die Arbeit ist. Und gegen die Wechselfälle des Lebens werden sie sich alleine absichern müssen. Genau das meint das angebliche "Erfolgsmodell USA".


 
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