© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/97  21. November 1997

 
 
Pankraz,Sartre und die Literatur jenseits von Gut und Böse

Das groß angekündigte Jenaer "Autorencolloquium" letztes Wochenende zum Thema "Literatur und Diktatur" war ein ziemlicher Schuß in den Ofen, mehr Manifestation als Diskussion. Man war sich darüber einig, daß erstens alle Diktaturen von Natur aus literaturfeindlich sind, zweitens alle "bedeutenden" Literaturproduzenten von Natur aus edel und gut sind und drittens eine Literatur umso "besser" ist, je mehr sie gegen Diktaturen anpoltert und die Fahne der Freiheit flattern läßt. So ließ man denn in Jena die Fahne flattern – freilich ohne daß dabei große Literatur oder sonst Faszinierendes herausgekommen wäre.

Es fehlte eben ein advocatus diaboli, der die drei Einigkeitsthesen hämisch hätte relativieren können. An Argumenten hätte es ihm nicht gemangelt. Mustert man die Geschichte durch, so könnte man fast auf den Gedanken kommen, daß nichts für eine literarische Blüte günstiger sei als das Regiment gebildeter, genußsüchtiger und freigebiger Tyrannen oder Diktatoren, man denke an Peisistratos von Athen, an die ersten Römerkaiser, an die Medici, an Louis XIV., unter dessen Obhut Racine und Molière gediehen, an das französische "Ancien Régime" im achtzehnten Jahrhundert.

Wichtig für literarische und überhaupt kulturelle Blüten ist nicht die Regierungsform, sondern der jeweilige "Geist", der herrscht, der "Zeitgeist". Ist dieser zelotisch gestimmt, wird er geprägt von religiösen oder weltanschaulichen Eiferern, seien sie nun revolutionär oder konterrevolutionär, so kommen schlechte Zeiten für Literatur und Kunst. Es kann dann passieren (und passiert tatsächlich), daß mitten in der Demokratie der pure Geistesterror losbricht, daß alle in eine einzige Richtung heulen müssen, ohne die geringste Chance der Dissidenz, und daß sich eine Leere ausbreitet, gegen die noch die sprichwörtliche ägyptische Finsternis wie blendendes Feuerwerk wirken würde.

Solche dunklen Zeitalter waren z.B. das Wüten der radikalen Puritaner unter Cromwell in England, als sämtliche Theater verboten wurden, die diversen Bilderstürmereien im alten Byzanz, die ersten Jahre nach 1793 in Frankreich, die "Stanowtschina" in der Sowjetunion in den fünfziger Jahren. Der Zeitgeist war in diesen Epochen derart destruktiv, die Zensur- und Überwachungsmethoden derart klug und erbarmungslos, daß auch kein äsopisches Sprechen mehr half, daß für die Literatur nur noch Fallbeil oder rascheste Flucht blieben.

Glücklicherweise sind solche Eruptionen des totalen Verbietens und Niedermachens, solche "Furien des Verschwindens" (Hegel) meistens relativ kurz, werden in der Regel abgelöst von Fäulnisprozessen, wo die Zeloten ermatten, ohne eigentlich liberal zu werden, wo die Zensur unsicher taktiert und der Nachschub für die Henker ins Stocken gerät. Dann kommt die Stunde der literarischen Zyniker und schlauen Anpasser, die keineswegs unbegabt sein müssen, die manchmal sogar genial und epochemachend sind, breite Schneisen in die Geschichte der Kunst schlagend.

Die halbe Freiheit ist für schöpferische Geister oft zuträglicher als die ganze. Sie müssen dann ihre sprachlichen Werkzeuge verfeinern, müssen durch die Blume sprechen, den unterschiedlichsten Standpunkten Gerechtigkeit widerfahren lassen, müssen Ironie, Delikatesse, selber Liberalität vorzeigen, können den wechselnden Moden besser widerstehen, um dagegen das Eigene zur Geltung zu bringen. Ihr Werk wird zum Rebus fürs Publikum, zum Palimpsest: auf jeder Seite steht außer dem, was offen dasteht, noch ein unsichtbarer Text, den der Autor "gemeint" haben könnte. Aus planen Moralisten werden vielfältig schimmernde Humoristen, die gegebenenfalls mit dem Zensor Pingpong spielen.

 

Moralität und Ästhetik decken sich nicht. Am wenigsten stimmt, was Sartre nach dem Krieg seinen Lesern einreden wollte: nämlich daß jede "gute" Literatur eine "littérature engagée" sei, ein moralisierendes Korpus mit dem "Fortschritt der Freiheit" als absolutem Qualitätshorizont. Natürlich stimmt auch das Gegenteil nicht: daß "gute" Literatur stets ästhetischer Gegenwurf gegen die Moralität sei und die "Blumen des Bösen" evoziere. Die Kriterien guter Literatur liegen jenseits von gut und böse, ergeben sich aus der inneren Stimmigkeit, Originalität und Makellosigkeit des jeweiligen Sprachspiels.

Diese Erkenntnis mag bitter sein für brave und wackere Streiter wider Diktatur und totalitären Zeitgeist, wie sie sich in Jena in der Aula versammelt hatten. Einige von ihnen zürnten der Geschichte, wie sie nun einmal abgerollt ist, daß sie die Jetons zu ungerecht verteilt hätte. Haben nicht sie, die Braven und moralisch Unverbogenen, schon während der NS-Zeit jahrelang im Exil oder gar im Knast gesessen und sich um ihre besten schöpferischen Jahre gebracht? Und heute sitzen sie zum Teil immer noch im Exil, leisten fleißig Verbandsarbeit für den "deutschen Exil-PEN" in London – und müssen zusehen, wie taubenfüßige Mitläufer von einst (oder gar ausgesprochene Ungeheuer wie Markus Wolf) durch die Medien gereicht werden und "die großen Auflagen machen". Wo ist da Gerechtigkeit?

Bei einigen ehemaligen DDR-Dissidenten wiederum war etwas wie Neid zu verspüren auf die erfolgreichen "Vergangenheitsbewältiger" der NS-Zeit, die immer noch so viel medialen und politischen Zuspruch erfahren, während ihre eigenen Peiniger aus Honeckerzeiten bereits in die Verjährungsgerade einbiegen und sich kaum noch jemand für die Querelen von damals interessieren mag. Waren Verfolgung und Leid nicht gleich, auch wenn die Parolen wechselten?

Mit dem Verhältnis von Literatur und Diktatur haben dergleichen Äußerungen, wenn überhaupt, allenfalls am Rande zu tun. Die Geschichte, sagt Hegel, sucht sich ihre Akteure nicht unter moralischen Gesichtspunkten aus – und so auch die Literaturgeschichte. Darüber zu klagen ist sinnlos.


 
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