© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/97  21. November 1997

 
 
Rechtschreibreform: Gegner erringen wichtigen Etappensieg
Das Tauziehen geht weiter
von Thorsten Thaler

Einen wichtigen Etappensieg auf dem Weg zur Verhinderung der umstrittenen Rechtschreibreform haben ihre Gegner am vergangenen Freitag errungen. Die dritte Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts gab erstmals in einem Hauptsacheverfahren der Klage eines 40jährigen Familienvaters statt und entschied, daß dessen drei schulpflichtige Kinder nicht nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden dürfen (Az.: VG 3 A 817.97).

In der Urteilsbegründung heißt es, daß der Vater durch die Reform in seinen Erziehungsrechten beeinträchtigt werde. Außerdem erkannte das Gericht in dem neuen Regelwerk eine Verletzung der allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Kinder. Die Veränderung der Rechtschreibung ist nach Ansicht der Kammer unter dem Vorsitz von Hans-Peter Rueß ein so wesentlicher Eingriff, daß sie vom Land Berlin nicht einfach per Verwaltungserlaß geregelt werde dürfe. "Die Rechtschreibung hat eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung junger Menschen", sagte Richter Rueß. Vertreten wurde der Kläger von dem Jenaer Rechtsprofessor Rolf Gröschner.

Kritik an dem Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, kam von Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sein Bedauern über die Entscheidung äußerte auch der Verband der Schulbuchverlage. Senatorin Stahmer kündigte an, in die Revision vor das Bundesverwaltungsgericht zu gehen. Die Anrufung dieser höchstrichterlicher Instanz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist möglich, weil sich Kläger und Beklagte zur Beschleunigung des Rechtsstreits auf eine sogenannte "Sprungrevision" verständigt hatten. In dem Revisionsverfahren prüft das Bundesverwaltungsgericht allerdings nur, ob von der untergeordneten Instanz Verfahrenfehler begangen wurden oder eine sonstige Verletzung von Rechtsnormen vorliegt. Neue Tatsachen können nicht mehr vorgebracht werden.

Schon frohlockt beispielsweise die Welt im Angesichts dieser Entwicklung in ihrem Kommentar: "Das Signal gegen die widersprüchliche, unsinnige und milliardenteure Rechtschreibreform geht von der Hauptstadt aus."

Unterdessen hat die Berliner Bürgerinitiative gegen die Rechtschreibreform "Wir sind das Rechtschreibvolk" insbesondere die Kritik der Schulbuchverlage zurückgewiesen. Ihnen sei bekannt gewesen, daß die Reform "erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken" unterliege. Deshalb hätten die Verlage, was Neuauflagen von Schulbüchern betrifft, vorsichtiger disponieren müssen. Außerdem hätten sie die Kultusministerkonferenz (KMK) vor einem Jahr auf ihre möglichen Verluste hinweisen sollen, statt sich jetzt in der Öffentlichkeit selbst "zu bemitleiden". Von der Politik forderte die Bürgerinitiative als Konsequenz aus dem Gerichtsurteil, die Rechtschreibreform auszusetzen.

Weil sich das juristische Tauziehen zwischen Befürwortern und Gegnern der Reform noch mindestens bis zum Frühjahr 1998 hinziehen wird, gibt es auch andernorts Überlegungen, die Umstellung auf die neue Schreibweise vorerst zu stoppen. So wollen sich nach Informationen aus der Deutschen Presseagentur dpa sämtliche Nachrichtenagenturen bis Ende November darauf verständigen, das ungeliebte Regelwerk auf Eis zu legen.


 
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