© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/97  28. November 1997

 
 
Günter Rohrmoser: Der Philosoph wird 70 und ist kein bißchen müde
Dem der Feind nie abhanden kam
von Ilse Meuter

Er kam aus einem Stall, der nicht besser hätte sein können. Zu seinen akademischen Lehrern zählten Köpfe, die man heutzutage vergeblich sucht: Landgrebe, Ratschow, Ritter. Günter Rohrmoser, dem deutschen Professor der Philosophie, ist zum Siebzigsten zu gratulieren. Er hatte das Glück und die Ehre, jener Artus-Runde anzugehören, die Joachim Ritter in den fünfziger Jahren zu Münster ("Collegium philosophicum") um sich versammelt hatte. Deren bleibendes Vermächtnis ist ein grandioses begriffsgeschichtliches Nachschlagewerk in deutscher Sprache, das weltweit seinesgleichen sucht – das "Historische Wörterbuch der Philosophie", dessen achter Band jüngst erschienen ist.

Wissenschaftsgeschichte, Hermeneutik, methodische Grundlagen der Geisteswissenschaften und politische Theorie wurden in den 50er und 60er Jahren noch nicht aus den USA reimportiert. Damals sah der Übersetzungs- und Lizenzbetrieb die entmachteten Europäer noch im Vorteil. Der junge Rohrmoser konnte noch erleben, wie gründlich, wie selbständig und wie lagebewußt-verortet gerade im zu Boden geschmetterten Deutschland gedacht worden ist.

Nichts hat fatalere Folgen als ein falsches Bewußtsein von der eigenen Lage. Davor warnen zu müssen, lag dem Stuttgarter Hochschullehrer ebenso am Herzen wie seinem Kollegen Bernard Willms. Gemeinsam war ihnen das erkenntnisleitende Interesse an begriffsgeschichtlichen Problemstellungen, ihre philologische Akribie und eine hermeneutisch-wissenssoziologische Perspektive, der die eminenten praktisch-gesellschaftlichen Folgewirkungen alles vermeintlich bloß "Theoretischen" bewußt sind. Einer zentralen zeitgenössischen Problemstellung – dem seit der Antike diskutierten Verhältnis von normativem Ideal und sozialer Realität, von Theorie und Praxis – gewann die Ritter-Schule ihre historische Tiefendimension zurück. Als wichtiges Resultat ihrer Arbeit trat die bohèmehafte Windigkeit dessen zutage, was eine aus New York zurückgekehrte "Frankfurter Schule" um Marcuse, Adorno und Horkheimer verzapfte.

Neben Lübbe und Spaemann schrieb auch Rohrmoser, durch die "68er" herausgefordert, eine fundamentale Kritik solch militanter Politromantik voll schlechter Utopie: "Das Elend der Kritischen Theorie" (1970) zog gleichsam neudeutsche Konsequenzen aus seiner 1961 vorgelegten Habilitationsschrift, die nichts geringeres unternahm, als "die Substanz des Hegelschen Denkens zu aktualisieren". Dieses sein schmales, aber ungemein dichtes Werk "Subjektivität und Verdinglichung" rekonstruiert das Theologie- und Gesellschaftskonzept im Denken des jungen Hegel; es geht um Geschichte und Entfremdung, deren moderne Heraufführung durch christliche Religiosität, Bürgertum und säkulare Wissenschaft und die Unmöglichkeit, unter diesen Bedingungen zu einer "Versöhnung der Gegensätze" zu gelangen.

Rohrmoser, der gebürtige Bochumer, hatte den Gegenstand seiner Forschung und Lehre gefunden; eine lange Reihe wissenschaftlicher Publikationen zeugt von seinem Ringen mit einer Thematik, die er auch breiten Kreisen eines außeruniversitären Publikums näherzubringen verstand: im Weikersheimer Studienzentrum, durch Mitarbeit in Schrenck-Notzings Criticón, dem Münchner Flaggschiff der konservativen Publizistik, durch rege Vortragstätigkeit wie auch der Politikberatung. Auf den Spuren von Bonald, Cortés, Max Weber und Carl Schmitt schärfte er in einer langen Reihe wissenschaftlich fundierter Buchpublikationen das Bewußtsein für die in ihren positiven wie negativen Auswirkungen kaum zu überschätzende Wechselwirkung zwischen religiös-weltanschaulicher und politisch-gesellschaftlicher Sphäre: "Die metaphysische Situation der Zeit". Ein Traktat zur Reform des religiösen Bewußtseins" (1975), "Zensur – Wandel des Bewußtseins" (1980), "Krise der politischen Kultur" (1983) und "Religion und Politik in der Krise der Moderne" (1989), um bloß die wichtigsten Titel zu nennen.

Furore machten seine Sinus-Streitschriften, in denen er der Kohl-CDU die Leviten las und die seit den Tagen Helmut Schmidts verheißene "geistig-moralische Wende" einklagte: in "Das Debakel", "Der Ernstfall" und "Wo bleibt die Wende?" zeigt er den Irrweg auf, an dessen Ende eine "versozialdemokratisierte Union" steht. Er behielt recht: nach 15 Jahren Kohl steht sie, gleichsam zur Kenntlichkeit entstellt, neoliberalen, ökosozialistischen und eurototalitären Konzepten näher als der christlichen Demokratie Adenauers und der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards. Die Warnungen Rohrmosers scheinen mittlerweile, nach Art einer "self-fulfilling prophecy", flächendeckend zur vereinigungsdeutschen Realität geworden zu sein.

Die Hoffnung, der CDU und ihren Sympathisanten durch Kapuzinerpredigten eine Wende abringen zu können, ist, zumal unter Kohl, IllusionNr.1. Gleichwohl: Keine, am wenigsten die scheinbar allwissende moderne "Gesellschaft" weiß, was in ihrem Inneren tatsächlich vor sich geht. Andernfalls gäbe es keine Geschichte im eigentlichen Sinne; Machthaber wären unantastbar und ewig. Die Geschichte, selbst die bundesdeutsche, geht weiter. Wie es derzeit aussieht, freilich bloß von irgendwo nach nirgendwann. Niemand weiß das besser als Günter Rohrmoser, der (wie könnte es bei einem christlichen Philosophen anders sein?) weniger Vor- als vielmehr katechontischer Nachdenker ist. Er wird nicht müde, vor der Drachensaat einer aufs "Veloziferische" (Goethe) verengten Moderne zu warnen, vor ihren romantisierenden Utopien und politreligiösen Messianismen. Er gehört zu den wenigen klugen Köpfen, die sich öffentlich weigern, nach "’89" nur noch politische Freunde und "Minsch’n" (Kohl) guten Willens zu erkennen. Selbst nach Ausrufung des totalen UN-Friedens ist ihm der Feind nicht abhanden gekommen.


 
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