© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/97  28. November 1997

 
 
Islam in Deutschland: Mehmet Erbakan, Generalsekretär von Milli Görüs, wehrt sich gegen den Vorwurf des Verfassungsschutzes, er strebe einen "Gottesstaat an
"Der türkische Laizismus kennt keine Religionsfreiheit"
von Gerhard Quast

 

Herr Erbakan, der Verfassungsschutzpräsident Peter Frisch sieht im "Islamismus" ein Sicherheitsproblem für die Bundesrepublik…

ERBAKAN: …im kommenden Jahrtausend.

…aber auch schon für die Gegenwart. Namentlich erwähnt wird in diesem Zusammenhang auch Ihre Organisation, die seiner Ansicht nach eine besondere Gefahr für den inneren Frieden der Bundesrepublik darstellt.

ERBAKAN: Bei diesen tausendjährigen Vorstellungen werde ich immer übel erinnert an andere tausendjährige Vorstellungen, die hier in diesem Land auch einmal existierten. Das nur dazu. Bei dem Thema innere Sicherheit muß ich betonen, daß diese durch die hier lebenden Muslime ganz sicher nicht bedroht ist, denn was wird da als Argument angeführt? Es wird angeführt, daß im Falle eines Konfliktes mit einem muslimischen Land die hier lebenden Muslime ein Sicherheitsproblem darstellen in der Hinsicht, daß sie in jedem Fall mit dem Land, welches auch immer da gemeint sei, sympathisieren und dementsprechend gesetzeswidrige Taten begehen. Das ist schon deshalb ein dummes Argument, weil es ja durchaus in den letzten 25 bis 30 Jahren Fälle gab, in denen Deutschland mit irgendeinem islamischen Land in einer Konfliktsituation gestanden ist. Das trifft für die UNO-Sanktionen gegen Libyen zu, für die Teilnahme der NATO am Golfkrieg und in jüngster Zeit hat man das beim Mykonos-Prozeß gesehen; alles Fälle in der Vergangenheit, in der genau die Situation, die man befürchtet, dagewesen ist. Und während all dieser Ereignisse kann man nun wirklich nicht davon reden, daß von hier lebenden Muslimen eine Bedrohung für die Sicherheit ausgegangen ist.

Sie betonen die Vergangenheit. Können Sie solche Situationen in Zukunft ausschließen?

ERBAKAN: Ich führe hier die Vergangenheit dafür an, daß die von Frisch beschriebene zukünftige Situation, aufgrund der dann so etwas entstehen könnte, nicht erstmalig entstünde, sondern es ähnliches bereits in der Vergangenheit gab und zumindest die Lehre der Vergangenheit nicht in die Richtung geht, daß hier eine Gefahr entsteht. Wenn, dann müßte das separat begründet werden, warum das in der Vergangenheit nicht so war, aber in Zukunft sein könnte. Und da sehe ich einfach nicht, woher das kommen soll. Das zweite zu diesem Thema ist, wenn man derart hypothetisch rangeht, wie das Frisch tut, ohne Roß und Reiter zu benennen, dann kann ich mir durchaus einen Konflikt mit einem fernöstlichen Land vorstellen, dann müßten hier die Chinesen…

…die im Vergleich zu den Türken eine verschwindende Minderheit darstellen.

ERBAKAN:…unter Verdacht kommen, daß sie ein Sicherheitsrisiko in Zukunft darstellen könnten. Die haben noch viel mehr Grund zur Annahme, warum wir vielleicht mit China nicht so im Gleichklang sein könnten, wie das mit anderen der Fall ist. Oder ich könnte mir vorstellen, dann müßte man auch die katholische Kirche als ein potentielles Sicherheitsrisiko betrachten, denn wer schließt aus, daß man in naher oder ferner Zukunft mit dem Vatikan in Konflikt ist.

Das ist nun aber wirklich sehr abwegig!

ERBAKAN: Wenn man derart hypothetisch einen Zeitraum von tausend Jahren absteckt, dann darf man schon etwas spekulieren. Sie sehen, ich halte von dieser Argumentation reichlich wenig, ich vermute dahinter eine Panikmache aus einer gesellschaftlichen Ecke, einer Organisation, die um ihre Existenzberechtigung bangt. Ich denke zu Recht. Nach dem Fall des Kommunismus ist es schwer, Kundschaft zu finden. Insgesamt können wir gut nachweisen, daß die Moschee-Gemeinden, und insbesondere auch unsere Gemeinden, nicht nur keine Bedrohung der inneren Sicherheit darstellen, sondern dafür sogar einiges getan haben und zwar in Form unserer Jugendarbeit. Wir haben hier mittlerweile schon seit Jahrzehnten eine Generation von Jugendlichen, die zwischen zwei Stühlen sitzt, und die ziemliche Orientierungsschwierigkeiten hat. Da bieten die moslemischen Gemeinden immerhin eine Anlaufstelle, bieten eine Identität, nämlich die Identität eines Muslims in der Diaspora. Das wirkt stabilisierend auf die jungen Muslime, was ganz sicher meßbar auch zur Förderung der inneren Sicherheit beiträgt. Auch bei konkreten Ereignissen wie zum Beispiel Mölln oder Solingen rufen wir selbstverständlich in unseren Gemeinden durch die dortigen Prediger und Imame zur Besonnenheit auf und versuchen deutlich zu machen, daß es sich keineswegs um eine Situation handelt wie zum Beispiel bei der Reichspogromnacht, sondern daß es sich um einzelne Phänomene handelt, die nicht Anlaß dazu geben, daß in irgendeiner Form hier gewalttätig gegengesteuert werden muß. Wenn man das so sieht, dann ist es eben in unseren Augen sehr verhöhnend, wenn diese Beiträge zur inneren Sicherheit nicht gesehen werden und stattdessen spekulativ aus der Luft Bedrohungsszenarien aufgebaut werden.

Aber so uneigennützig betreuen Sie diese Jugendlichen auch nicht. Frisch vermutet darin eine besondere Einflußnahme und den Versuch, die Jugendlichen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu isolieren?

ERBAKAN: Zunächst einmal ist der Herr Frisch für eine ganze Menge Dinge zuständig, aber ob er etwas von Integration versteht, das bezweifle ich doch sehr stark. Ich denke mal, davon hat er keine Ahnung.

Was verstehen Sie darunter?

ERBAKAN: Jeder verwendet zwar den Begriff Integration, aber jeder verwendet ihn anders. Bis heute gibt es aber keine einheitliche Definition darüber, was man unter Integration verstehen soll. Da gibt es welche, die unter Integration die juristische Integration verstehen, also daß die Türken die Rechte und Pflichten eines normalen deutschen Staatsbürgers haben. Andere wiederum verstehen darunter etwas so weitgehendes, daß man das schon eher als Assimilation bezeichnen muß. Da geht es darum, jegliche Eigenart, jegliche individuelle Identität aufzugeben zugunsten einer wie auch immer gearteten Identität der Mehrheitsgesellschaft. Vieles bleibt also im Unklaren. Deshalb ist es immer schwierig, zu dem Thema Integration sehr präzise Stellungnahmen abzugeben.

Könnten Sie es trotzdem versuchen?

ERBAKAN: Ich kann es an einem deutlich machen, am Thema sichtbar werdender muslimischer Religiosität. Stellen Sie sich einmal vor, Sie kommen für einen kurzen Zeitraum in ein fremdes Land. Sie werden ganz sicher nicht die Errichtung einer Kirche vorantreiben, weil Sie sich sagen, ich bin nur für ein paar Wochen dort. Wenn Sie allerdings für zwei oder drei Jahre in einem Land sind, werden Sie sich mit einem Notbehelf zufriedengeben. Die Türken in Deutschland sind aber 20 bis 30 Jahre hier und langsam dämmert es ihnen, daß sie hierbleiben werden. Die zweite und dritte Generation ist herangewachsen, die Kinder sprechen bereits besser Deutsch als Türkisch. Deshalb richten wir uns hier dauerhaft ein. Das heißt, die Religiosität in Form von Moscheen, in Form von Muezzinruf, in Form von islamischer Bekleidung, wie sie in den letzten Jahren sichtbarer wird, sind Ausdruck einer stattgefundenen inneren Integration der Menschen.

Aber all das ist auch Ausdruck einer noch nicht vollzogenen Integration.

ERBAKAN: Das sehe ich anders. Warum kann eine junge Frau mit Kopftuch, die Deutsch spricht wie Sie und ich, warum kann die nicht auch alles tun, was eine Geschlechtsgenossin gleichen Alters tun würde. Ich sehe nicht, wo da das Integrationshemmnis auf der Seite dieser muslimischen Frau sein soll.

Es gibt ein Urteil über die Befreiung türkischer Mädchen vom Sport- und Sexualunterricht. Was hat das mit Integration zu tun?

ERBAKAN: Auch katholische Eltern haben für sich das gleiche Recht erstritten. Im übrigen: Wo Schule in den Bereich elterlichen Gestaltens zu weit eingreift, da würde ich – das hat nichts mit dem Islam zu tun – im Zweifel sowieso den Eltern das Recht zubilligen, daß sie da maßgebender sind als irgendwelche Lehrer.

Sie haben die Vorwürfe des Verfassungsschutzpräsidenten zurückgewiesen und ihm einen Dialog angeboten?

ERBAKAN: Wir versuchen seit zwei bis drei Jahren mit Frisch ins Gespräch zu kommen, damit er uns konkret sagt, was an unserem Wirken mit den Grundsätzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar ist. Bisher wird so getan, als ob das einhellig geklärt sei, was aber keineswegs der Fall ist. Denn auf die konkrete Frage, was an unseren Vorstellungen unvereinbar ist mit dem Grundgesetz, gibt der Verfassungsschutzbericht keine Auskunft. Deshalb fordern wir einen Dialog. Dann können wir dazu Stellung nehmen und – sofern die Vorwürfe berechtigt sind – auch gerne Kurskorrekturen vornehmen, wenn uns das konkret benannt wird. Das setzt aber voraus, daß eine Verständigung stattfindet. Diese funktioniert im Moment nur über die Presse, und das ist wenig befriedigend.

Gab es bisher keine Gespräche?

ERBAKAN: Wir haben versucht, ein Gespräch zu führen und uns wurden auch konkrete Gesprächstermine genannt. Das war am 13. Januar und am 20. Januar diesen Jahres. Beide Male sind diese Gespräche mit Herrn Frisch kurzfristig abgesagt worden. Auf weitere Anfragen haben wir bis heute keine Antworten erhalten. Das, denke ich, ist ein Punkt, auf den sich die Innenpolitik dieses Landes bei einer so wichtigen Frage nicht zurückziehen kann, aber gleichzeitig wird fortwährend die Weisheit verkündet, wer alles eine Bedrohung darstellt und wer nicht. Da muß man zumindest die Bereitschaft zum Gespräch haben.

Aber wenn das Bundesamt Sie als verfassungsfeindlich einschätzt, dann wird es Herrn Frisch schwerfallen, sich mit vermeintlichen Verfassungsfeinden an einen Tisch zu setzen.

ERBAKAN: Im Grunde eigentlich nicht, denn im Vorwort der Verfassungsschutzberichte steht, daß der Staat über den Weg dieser Berichte den Weg des politischen Dialogs sucht und nicht den der Repression, wie man das aus totalitären Regimen kennt. Da ich diesen Ausspruch ernst nehme, biete ich diesen politischen Dialog an, an dessen Ende sehr wohl stehen kann, daß ich vielleicht zu der Überzeugung gelange, eine nicht verfassungskonforme Position zu haben. Aber das setzt voraus, daß dieses Gespräch stattfindet.

Es heißt, Milli Görüs strebe die Errichtung eines "Gottesstaates" an. Außerdem verstießen Sie mit Ihren Ansichten gegen die Trennung von Staat und Kirche, einem Grundprinzip der Bundesrepublik.

ERBAKAN: Das sind Vorwürfe, die von Frisch geäußert wurden, die aber jedes Mal, wenn sie geäußert werden, weder durch Reden von mir oder anderen Vereinsfunktionären belegt werden noch durch Schrifttum, sondern einfach nur behauptet werden. Die Behauptung, wir strebten die Errichtung eines "Gottesstaates" an, ist eine dermaßen aus der Luft gegriffene Sache, daß sie unter Muslimen regelmäßig Schmunzeln auslöst, denn ernsthafterweise haben die Muslime in Deutschland ganz andere Probleme, als sich über die Staatsform der Bundesrepublik Gedanken zu machen. Sie haben ganz konkrete Probleme in ihrem Alltag, wie zum Beispiel die Genehmigungen für Moscheen, die sie weit mehr bewegen, als irgendwelche staatstheoretischen Überlegungen. Das trifft ganz besonders für Milli Görüs zu. 90 Prozent unserer Arbeit besteht darin, bei diesen Alltagsproblemen den Gemeinden Hilfestellung zu leisten und keineswegs darin, irgendwelche revolutionären Ideen zu verbreiten, wie man Deutschland verändern sollte oder könnte. Im Gegenteil: Wir befürworten eine Staatsstruktur, wie sie in Deutschland existiert, in der es mehr Religionsfreiheit gibt als in vielen sogenannten islamischen Ländern.

Milli Görüs unterstützt die islamisch-fundamentalistische Wohlfahrtspartei von Necmettin Erbakan. Wie ist das mit diesem von Ihnen geäußerten Standpunkt zu vereinbaren?

ERBAKAN: Die Refah-Partei wird sicherlich von den allermeisten unserer Mitglieder bevorzugt und unterstützt, das ist ganz klar, aber sie kämpft nicht für einen "Gottesstaat" – womöglich gar nach iranischem Vorbild –, sondern sie kämpft gegen das türkische Verständnis von Laizismus. Wenn man den gleichsetzt mit dem allgemeinen Begriff Säkularismus, wie er in westlichen Verfassungen etabliert ist, dann wäre in der Tat diese Einschätzung richtig. Aber wenn man sich die Situation in der Türkei genau anschaut, dann ist der türkische Laizismus alles andere als das, was im Westen unter Säkularismus oder Trennung von Staat und Kirche verstanden wird. Der türkische Laizismus ist der Versuch, die Trennung von Religion und Staat durch Unterdrückung von Religion und durch Repression aufzuheben. Wie paßt ein dem Ministerpräsidenten unterstelltes Amt für religiöse Angelegenheiten, das exklusiv religiöses Leben regelt, zu unserem Verständnis von Säkularismus? Wie paßt dazu, daß an den türkischen Hochschulen religiöse Bekleidung verbannt wird? Diese und andere Phänomene zeigen, daß in der Türkei in der offiziellen Doktrin der Laizismus nicht verstanden wird in Form des westlichen Säkularismus. Der Kampf hiergegen hat nichts mit dem Versuch zu tun, Säkularismus aufzuheben. Der Kampf hiergegen hat schlicht und ergreifend damit zu tun, Religionsfreiheit zu etablieren.

Trotzdem wird behauptet, daß für Sie der Koran und nicht die Verfassung der Bundesrepublik als politisches Gesetz zu gelten habe.

ERBAKAN: Das sind zwei sehr schwer miteinander vergleichbare Texte. Der Koran ist ein verbindliches Buch einer Religion, in dem auch viel nicht Gesetzgeberisches steht, das andere die Verfassung eines Landes. Das ist ein – sagen wir einmal – eher von Unwissenheit getragener Vergleich. Man muß die Frage dann doch eher so formulieren: Ist ein Muslim aufgrund seiner Lehre zwingend verpflichtet, gegen diesen Staat zu sein? Oder anders ausgedrückt: Kann er nur dann ein korrekt der Lehre entsprechender Muslim sein, wenn er diesen Staat und insbesondere die auf das Grundgesetz fußende Bundesrepublik ablehnt oder nicht?

Was einige Islam-Kritiker bejahen!

ERBAKAN:Diese Frage ist von den meisten muslimischen Gemeinden ziemlich eindeutig beantwortet worden: Man kann ein frommer, der Lehre entsprechender Muslim sein, ohne in Konflikt mit diesem Staat zu sein. Das islamische Recht sagt, man kann unter einer nicht genuin islamischen Rechtsordnung leben, wenn es dort Religionsfreiheit gibt. Und das ist hier der Fall. Insofern gibt es diesen Konflikt nicht.

Aber es gibt dazu auch von muslimischer Seite anderslautende Ansichten!

ERBAKAN: Dieser Konflikt wird gerne herbeigeredet. Da gibt es sowohl auf muslimischer wie auf nicht-muslimischer Seite Menschen, die diesen in der Lehre nicht vorhandenen Konflikt gerne hätten, um bestimmte Positionen zu begründen. Den gibt es aber nicht! Zumindest wir, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, nehmen das in Anspruch. Das ist unsere Lesart des Korans. Es ist auch nicht das erste Mal in der 1400jährigen Geschichte, daß Muslime als Minderheit unter Nicht-Muslimen leben, das gibt es durch die ganze Geschichte hindurch. Und an vielen Beispielen kann man zeigen, daß es diesen Konfliktfall nicht gibt.

Seit einigen Jahren bilden die Türken in den deutschen Großstädten zunehmend Ghettos. Hat diese räumliche Nähe nicht längst zu einer Selbstisolierung der Türken geführt?

ERBAKAN: Die Ghettos sind entstanden im Zuge der Arbeiterwohnheime in der Nähe der Industrie, wo die Türken in den 60er und 70er Jahren gearbeitet haben. Insofern haben wir dieses räumliche Beieinandersitzen schon ziemlich lange. Was jetzt vielleicht neu daran ist, ist, daß der Kontakt der Türken dieser Stadtteile zur Mehrheitsbevölkerung abnimmt. Solche Isolierungstendenzen widersprechen dem Grundgedanken einer jeder Religion, die ja einen gewissen Transportauftrag hat. Sich abzugrenzen ist dem Grundansatz einer Religion zuwiderlaufend. Das kann man vielleicht bei Sekten sehen, aber nicht bei Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft, die ein Sendungsbewußtsein hat.

Haben Sie Verständnis für die Ängste der Deutschen vor Überfremdung?

ERBAKAN: Dafür habe ich natürlich Verständnis und ich kann mir auch gut erklären, warum die Menschen hier mehr Schwierigkeiten mit den Fremden haben als in Frankreich oder England. Neben verschiedenen anderen Gründen hat sicher auch das fehlende deutsche Selbstbewußtsein damit zu tun, das nicht identitätsstiftend genug ist. Deshalb fühlen sich die Deutschen durch jedwedes andere Lebenskonzept…

…zum Beispiel durch den Muezzinruf…

ERBAKAN: …stärker in Frage gestellt. Den Deutschen hat man gründlich ausgetrieben, etwas von sich selbst zu halten.

Mehr nationales Selbstbewußtsein hielten Sie also für ein Zusammenleben förderlich?

ERBAKAN: Nationales oder wie auch immer geartetes Selbstbewußtsein ist ja nicht falsch. Daß man mit den sogenannten Ausländern nicht kann, liegt ein ganzes Stück weit daran, daß die eigene Identität so schwach oder geschwächt worden ist. Und dementsprechend wäre es sicherlich wünschenswert, daß man es mit einem zufriedenen, selbstbewußten Gegenüber zu tun hat, der sich nicht daran stört, wenn jemand anders ist.

Das fehlende Selbstbewußtsein hängt mit der deutschen Geschichte zusammen. Wie sehen das deutsche Staatsbürger türkischer Abstammung?

ERBAKAN: Für Ereignisse, die 50 Jahre her sind, wird sich jemand, der einen deutschen Paß annimmt, aber von der Herkunft her Türke ist, ganz sicher nicht verantwortlich fühlen. Ich denke, die Türken haben da vielleicht eine Chance, die deutsche Geschichte, sagen wir einmal, von einer etwas unbeteiligteren Position auszuwerten. Sicherlich ist das, was im Dritten Reich geschehen ist, eine schreckliche Sache. Das kann niemand ernsthaft abstreiten. Wenn man einmal den Blick durch die Geschichte und das, was heute noch geschieht, streifen läßt, dann ist der Holocaust nicht das eine, exorbitante Beispiel unmenschlichen Handelns in der Menschheitsgeschichte, zu dem es vielleicht im deutschen Bewußtsein geworden ist. Das ist für den Türken sicher kein Thema, zu dem er bewußt Stellung beziehen müßte, aber aus türkischer Geschichtswahrnehmung sind die Ereignisse des Holocausts – so schrecklich sie sind – mit anderen Verbrechen durchaus vergleichbar. Im Prinzip hat doch jede größere Machtkonstellation auf diesem Planeten sein Verbrechen fabriziert.

Es gibt in Deutschland seitens der islamischen Fundamentalisten immer wieder antisemitische Äußerungen. Auch Milli Görüs wird Antisemitismus vorgeworfen. Zu Recht?

ERBAKAN: Uns antisemitische Äußerungen vorzuwerfen, ist purer Unsinn. Juden ihrer Religion wegen abzulehnen und zu diskriminieren, kann einfach kein islamischer Standpunkt sein. Ein ganz anderes Thema ist Israel. Der Begriff wird sicher überstrapaziert, wenn man israelkritische Äußerungen als antisemitisch bezeichnet.

Aber es gibt auch ganz klar antisemitische Äußerungen in Publikationen aus dem Dunstkreis von Milli Görüs, so in der Zeitschrift "Milli Gazete"?

ERBAKAN: Das mag sein, das weiß ich im einzelnen nicht. Das würde ich aber uns nicht zurechnen lassen wollen. Wir haben sicher nichts damit zu tun, was die da im einzelnen schreiben. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, daß das einen nennenswerten Prozentsatz der Berichterstattung ausmacht, das wäre mir sonst aufgefallen. Vielleicht sind in den 20 Jahren, in denen sie erscheint, zwei oder drei Artikel erschienen, wo dieser Vorwurf zutreffend ist.

Können Sie ausschließen, daß es unter den Türken eine antisemitische Grundstimmung gibt?

ERBAKAN: Ich würde das nicht ausschließen. Ich würde sogar sagen, das kann durchaus der Fall sein, hat aber seine Ursachen eher darin, daß man sprachlich nicht ganz sauber zwischen Israel und Juden trennt. Wenn man genauer schauen würde, würde man sehen, daß es nicht um Angehörige der jüdischen Religion geht oder gehen kann.

Sie erwecken nicht gerade den Eindruck eines Extremisten. Was halten Sie von der Titulierung "Wolf im Schafspelz"?

ERBAKAN: Das ist die schöne Feindbildfalle. Entspricht das Gegenüber in seinen Äußerungen den Vorstellungen, dann sind die Vorstellungen bestätigt. Widerspricht das Gegenüber, dann ist es nicht die naheliegende Erkenntnis, daß es zumindest anders ist, als es dargestellt wurde, sondern dann wird der Umkehrschluß gezogen, und das Gegenüber als besonders hinterlistig dargestellt.

Aber haben Sie nicht doch "Kreide gefressen"?

ERBAKAN: Ohne Ihnen persönlich nahe zu treten: Offenbar wird die Erkenntnis, es kann doch vielleicht an den Vorurteilen etwas nicht stimmen, von vorne herein als Möglichkeit ausgeschlossen. Wenn Aussagen den Erwartungen nicht entsprechen, dann kann es sich doch nur um wortgewandte Rhetorik handeln, um sich da rauszuwinden.


 
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