© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/97  05. Dezember 1997

 
 
Kolumne
Engels -Ruf
von Klaus Motschmann

Die aktuellen Auseinanderstezungen um die Wiedereinführung des Bußtages anläßlich des Volksentscheides in Schleswig-Holstein geben Anlaß zu einigen grundsätzlichen Überlegungen über das Wesen christlicher Buße und damit über den Sinn dieses "Feiertages". Es ist der evangelischen Kirche bei der Vorbereitung dieser Kampagne offensichtlich nicht gelungen, den Menschen die Bedeutung eines solchen Tages verständlich zu machen. Dafür gibt es verschiedene theologische Gründe, die unter anderem mit dem Schuldkomplex der evangelischen Kirche nach 1945 zusammenhängen. Es wird in der evangelischen Kirche aus diesem Grunde sehr viel und sehr intensiv über die Schuld der Kirche und über die Schuld des deutschen Volkes nachgedacht und rund um das Jahr zur Buße gerufen. Dagegen ist mit Martin Luther auch überhaupt nichts einzuwenden.

Aber etwas sehr Wesentliches ist im Laufe der Jahrzehnte vergessen, zumindest nicht hinreichend beachtet worden: Zur Buße rufen heißt eben nicht nur zur "Umkehr", zum "Sinneswandel" auf Grund der Einsicht in eigenes schuldhaftes Verhalten mahnen, wozu ausdrücklich auch das Schweigen zu schuldhaftem Verhalten andere gehört. Im Ruf zur Buße ist nach christlichem Verständnis immer auch der Hinweis auf die Vergebung zu hören. Die bloße Wiederholung von Schuldbekenntnissen und die daraus resultierende Buß-Haltung pervertieren den christlichen Bußgedanken, wenn die Menschen nicht von einer Schuldvergebung erfahren. Nicht ohne Grund folgt dem Bußtag die Advents- und Weihnachtszeit mit dem Ruf des Engels: "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren" – und das heißt eben: Schuldvergebung.

Im vorherrschenden Meinungsklima der evangelischen Kirche ist dieser Ruf zur Freude und zur Schuldvergebung wenig zu hören. Die Kirche sollte die gegenwärtige Auseinandersetzung um den Bußtag endlich zum Anlaß nehmen, ihrerseits Buße zu üben. Sie ist uns das klare Wort von der Vergebung menschlicher Schuld vielfach schuldig geblieben und ist damit selbst schuldig geworden. Sie ist es auch deshalb geworden, weil sie neuerlichem Unrecht an und in unserem Volke schweigt, zum Beispiel zu der Tötung von etwa 300.000 ungeborenen Kindern jährlich. Wer dazu schweigt, sollte andere nicht zur Buße rufen. Auch hier gilt die Drei-Finger-Regel: Wer mit dem Zeigefinger auf die Schuld eines anderen zeigt, auf den weisen stets drei Finger zurück. Glaubwürdigkeit ist aber eine wesentliche Vorbedingung für die Bereitschaft des Menschen zum Glauben.


 
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