© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/00 07. Januar 2000


Pankraz,
Zarathustra und der Biß des neuen Jahrtausends

Am Anfang eines neuen Jahrtausends darf wohl auch der durchschnittliche Zeitungsleser einmal einen Augenblick lang Zarathustra sein und mit diesem fragen: Was ist mit uns Menschen, die wir etwas Dauerhaftes auf die Beine stellen wollen in unserem Leben? Ist alles vergeblich vor dem Fortriß der Zeit? Lohnt es überhaupt, einen Willen zur Tat zu haben, wenn früher oder später doch alles vollkommen den Bach hinuntergeht und auf Nimmerwiedersehen im Orkus der Zeit verschwindet? Degradiert uns die Zeit nicht zu bloßen Hampelmännern, die wie Sisyphus immer denselben Stein wälzen, nur damit der am Ende doch wieder den Berg hinunterrollt?

"Alles hoch Emporgeworfene muß fallen", sagt Zarathustra. Wollen kann man nur Zukünftiges, aber alles zukünftige Sichentwerfen wird Vergangenheit, entzieht sich also unserem Wollen, macht uns machtlos. Oder doch nicht? Was wäre denn, wenn die Dinge selbst wiederkämen, die Zeit kein Pfeil ins Unendliche wäre, keine Linie, die durch das Jetzt in zwei völlig heterogene Teile zerspalten wird, sondern eine Kurve, eine Kreisbewegung, eine ewige Wiederkehr?

Zarathustra sträubt sich zunächst mit Händen und Füßen gegen diesen Gedanken von der ewigen Wiederkehr, denn der hebt ja offenbar die Freiheit, die ihm (und uns) so teuer ist, vollständig auf. Wenn die Zeit ein Kreis ist, dann ist ja alles vorherbestimmt wie in den fatalistischen Religionen des Orients, dann fällt unsere ganze Freiheitsemphase in Nichts zusammen! Oder relativiert sich das etwa, sobald man genauer hinsieht?

Zarathustra konstatiert die schreiende Absurdität der herkömmlichen Zeitfigur: Wir hier im Jetzt, und rechts von uns eine unendliche Reihe ins Vergangene, und links von uns eine ebenso unendliche Reihe ins Zukünftige. Ist denn so etwas denkbar? Wird der menschliche Gedanke an solche Unendlichkeiten nicht regelrecht zu Tode geschleift?

Unendlich" heißt doch zweifellos auch "alles". Wenn eine wirklich "unendliche" Vergangenheit besteht, dann muß auch alles, was überhaupt geschehen kann, schon irgendwann einmal geschehen sein. Es kann in einer wirklich unendlichen Vergangenheit nichts mehr fehlen, noch ausstehen, Zukunft sein, d.h. unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft fallen zusammen; wenn überhaupt etwas logisch ist, dann ist es dies. Der Nietzsche-Interpret Eugen Fink hat das folgendermaßen formuliert (und man kann es, findet Pankraz, nicht besser formulieren):

"Ewigkeit der Vergangenheit fordert das Schongeschehensein alles Geschehbaren, das Abgelaufensein einer ganzen Zeit, und ebenso eine unendliche, ewige Zukunft fordert das künftige Ablaufen aller binnenzeitlichen Ereignisse. Indem Vergangenheit und Zukunft als Ewigkeiten gedacht werden, müssen sie beide je als die ganze Zeit gedacht werden. Gibt es aber zweimal jeweils die ganze Zeit? Ist das nicht Widersinn? Jedenfalls: Für Nietzsche-Zarathustra ergibt sich gerade daraus die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen."

Was von Fink so klar und knapp-abstrakt dargelegt wird, das weitet sich im "Zarathustra" zu einer hochdramatischen Theaterszene aus. Zarathustra ist mit einem Ungeheuer auf der Schulter, halb Zwerg, halb Maulwurf, im Gebirge unterwegs; es ist der Geist der Schwere, und mit ihm erörtert er die ewige Wiederkehr. "Und diese langsame Spinne", ruft er schließlich, "diese Spinne, die im Mondschein kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Torwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd: müssen wir nicht alle schon dagewesen sein? – und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen?"

Dann gibt es einen entsetzlichen Schrei, und ein erwachender Hirte gerät ins Bild, dem während des Schlafs eine Schlange in den Hals gekrochen ist. Zarathustra ruft dem Hirten zu, er solle der Schlange den Kopf abbeißen. Der Hirte beißt – und so befreit er sich und Zarathustra von dem niederschmetternden Ekel des Gedankens an die ewige Wiederkehr und an die Vergeblichkeit all unserer Aufbrüche, die dieser Gedanke scheinbar einschließt.

Der Hirte lacht. Das Überstehen, das Durchstehen des Gedankens an die ewige Wiederkehr verwandelt allen Ernst in unendliche Heiterkeit. Wieso denn schränkt er mich ein? Er gibt meinen Entscheidungen doch ganz im Gegenteil eine ungeheure Rechtfertigung. Indem ich entscheide, gebe ich dem Weltenrad einen Schwung. Ja, ich bin das Weltenrad. Alle Hemmungen, von wegen "mit der Vergangenheit rechnen", sind gegenstandslos.

Was ich jetzt tue, das ist auf jeden Fall gutgetan, und sei es das Alleranstößigste. Ich bin nun wirklich frei. Und ich bin Gesetzgeber, Urgrund unendlicher Wiederholung. Zufall und Notwendigkeit, Schuld und Strafe verlieren ihren Sinn, konkretes Handeln und abstraktes Weltengesetz, Augenblick und Ewigkeit fallen zusammen. Eine Lieblingsmetapher Nietzsches, "der Große Mittag", kommt zum Zuge. "Der große Mittag ist da . . . Über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut . . . O Himmel über mir, du reiner, hoher! das ist mir nun deine Reinheit, daß es keine ewige Vernunfts-Spinne und kein Spinnennetz gibt: – daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle . . . "

Soweit also Zarathustra, und Pankraz räumt gerne ein: Kein schlechter Jubelruf zur Begrüßung des neuen Jahrtausends. Natürlich kann so nur jubeln, wer wirklich zum Tanzen bereit und in der Lage ist, wer wirklich den Mut hat, der Schlange, die einem ins schnarchende Maul gekrochen ist, den Kopf abzubeißen. Dies ist aber leichter, als es scheint, man braucht dazu nicht einmal unbedingt an die ewige Wiederkehr der Zeit zu glauben.


 
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