© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/00 07. Januar 2000


Gesellschaft: Sexualisierung und Brutalisierung nehmen zu
Der Verlust von Intimität
Theo Mittrup

In seinem Heimatland löste er mit seinen literarischen Werken eine heftige Debatte aus: Die einen vermuten in ihm einen Faschisten oder Stalinisten oder beides, andere sehen ihn als "Karl Marx der Sexualität" oder "Ernst Jünger der Pornographie". Unabhängig davon wie man ihn beurteilt, mit seinem Romandebüt "Die Ausweitung der Kampfzone" (Wagenbach, Berlin 1998) und dem anschließenden Bestseller "Elementarteilchen" (DuMont, Köln 1999) hat der Franzose Michel Houellebecq offensichtlich den Nerv unserer Zeit getroffen.

Der Roman "Elementarteilchen" kann gelesen werden als eine Anklageschrift gegen das "sexuelle Elend der modernen Welt". Houellebecq beschreibt, wie die historische Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen – deren letzter Schub die "sexuelle Befreiung" der 68er war – Liebesunfähigkeit, Sexsucht und Einsamkeit seiner beiden Romanfiguren verursacht hat. Er läßt bewußt keinen Zweifel daran, daß es sich bei den beiden Brüdern um Durchschnittsbürger der westlichen Gesellschaft handelt. Houellebecqs Kritik an dieser lautet komprimiert: Einsamer, armseliger und unglücklicher waren wir nie, weil wir niemals freier, reicher und lustiger waren. Wir sind zum dauernden sexuellen Erregungszustand, zur Untreue, zu Einsamkeit und Selbstverachtung verdammt, weil die Marktwirtschaft nacheinander die Stände, die Religion, die Ehe und den Schlaf der Triebe zerstört hat.

Houellebecq benutzt den Supermarkt als Erklärungsformel, um die gegenwärtige gesellschaftliche Realität zu beschreiben. Demnach ist mit der Auflösung der Familie die letzte Rückzugsmöglichkeit verschwunden, die den Menschen noch vom Warenmarkt getrennt hat. Befreit von "allen Zwängen, wie sie Zugehörigkeitsgefühl, Treue oder ein streng kodiertes Verhalten bedeuten", ist der moderne Mensch in einem System unterwegs, das ihm "auf eindeutige Weise einen Tauschwert zuweist". Jeder Mensch trägt ein aufgestempeltes Verfallsdatum, sichtbar in Faltenbildung und Bauchumfang. Nach Ablauf des Verfallsdatums sind die Menschen wertlos. Je näher sie dem Ablauf ihrer Restattraktivität rücken, desto panischer verramschen sie sich in promiskuitivem Sex. So spaltet das marktwirtschaftliche System die Gesellschaft in sexuelle Sieger und Verlierer: Die Schönen haben ein tolles Sexleben, die anderen sind "auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt". Houellebecq sieht darin einen neuen Pauperismus (Verelendung, Massenarmut).

Die Achtundsechziger sahen in der Unterdrückung des Trieblebens den Grund für Aggressionen, für Vergewaltigungen, für Faschismus, für Krieg. Heute kann von Triebunterdrückung nicht mehr die Rede sein. Dennoch werden weiter Kriege geführt, wie jüngst in Jugoslawien, und jugendliche Amokläufer schrecken mit brutalen Morden nun auch in Deutschland die Öffentlichkeit auf. Ist das Modell der "sexuell befreiten Gesellschaft" im Sinne der Achtundsechziger damit gescheitert?

Die Ursachen der zunehmenden Brutalisierung und Sexualisierung der Gesellschaft sind jedoch weniger in der Aufklärung und "sexuellen Befreiung" zu sehen als in deren Vermarktung in der Marktwirtschaft. Der amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis kritisiert, daß "überall Bilder von unerreichbarem, perfektem Sex" zu sehen sind: "In der gesamten westlichen Welt werden wir dauernd mit Bildern bombardiert, die uns an unsere Unzulänglichkeit erinnern. Das schädigt unsere Gesellschaft, denn alle, die nicht reich, jung und schön sind, und das sind die meisten, werden zwangsläufig verunsichert."

Im Spiegel analysiert Anushka Rohani die Folgen einer sexualisierten Gesellschaft für die Jugendlichen von heute: "Früher lag das große Schweigen zwischen den Sexpartnern; heute schwebt das Bildergedächtnis wie ein Über-Ich über jungen Paaren. Keine andere Generation ist mit so vielen Nacktbildern groß geworden: Wann immer sie Sex haben, muß es ihnen vorkommen, als laufe ein Film ab. Sie haben den Akt tausendfach reproduziert gesehen, im Kino, auf Werbeplakaten, in Musikvideos. (…) Sex ist totfotographiert und totgeforscht. Sex ist kein Synonym mehr für die höchste Intimität zwischen zwei Menschen – er ist um sein Geheimnis gebracht. Er ist banales Alltagsvergnügen, reines Entertainment."

Sexy sein heißt fit sein, heißt so makellos sein wie Models. Viele trauen sich heute nicht mehr ins Schwimmbad, weil sie überzeugt sind, dem Schönheitsideal nicht zu entsprechen. Jugendliche haben keine Angst mehr vor Sexualität, aber sie haben Angst dabei schlecht auszusehen. Leserbriefe an Jugendzeitschriften sind voll von Versagensängsten und Selbstzweifeln, nicht normal weil nicht hübsch genug zu sein.

Werbung mit schönen Menschen ist Werbung für schöne Menschen. Der zwanghafte Wunsch, gut auszusehen, treibt die Menschen in Fitnesstudios, auf Schönheitsfarmen, zu Schönheitschirurgen. "Werbeplakate zeigen computerkorrigierte Fotos von Menschen, die es so gar nicht geben kann", kritisiert der Schönheitschirurg Florian Kubizek. "Für manche Menschen ist ein altes Gesicht schon eine ästhetische Zumutung. Da heißt es dann kritisch: Der oder die hätte doch schon längst mal etwas machen lassen können." Wer will in der Gesellschaft der ewigen Jugend schon als alt gelten? Im Showbusineß gelten Schönheitsoperationen fast als ein "Muß" und sind inzwischen Routine.

Als nächster Schritt wird künftig die Gentherapie hinzukommen. In Verbindung mit künstlicher Befruchtung sollen "unschöne Fehler" schon an der Wurzel ausgemerzt und damit makellose Menschen geschaffen werden. Eltern, die diesen Weg nicht gehen wollen, laufen dann wohl Gefahr, eines Tages mit Vorwürfen ihrer Sprößlinge konfrontiert zu werden.

Für die Marktwirtschaft gilt: Sex verkauft sich – Sex bringt Quote. Gerade das Privatfernsehen macht mit Werbeeinspielungen zwischen Beiträgen über Sado-Masochisten, Transvestiten, Lederfetischisten usw. Millionengewinne. So setzt sich in der Marktwirtschaft die Spirale der Sexualisierung der Gesellschaft durch die Aussicht auf ökonomischen Gewinn fort.

Bereits 1993 analysierte der Soziologe Hans Peter Duerr im Spiegel die Entwicklung aus historischer Sicht: Die mittelalterliche europäische Gesellschaft "war noch weitgehend eine enge, überschaubare Gemeinschaft, in der das individuelle Verhalten von fast allgegenwärtigen sozialen Kontrolleuren überwacht" wurde: von der Familie, von Verwandtschaftsverbänden, Nachbarn. In den spätmittelalterlichen Städten mit ihrer Mobilität und Fluktuation gab es diese Verhaltensregulierungen immer weniger. So unternahm man den "verstärkten Versuch, die schwächer gewordenen ’äußeren‘ Kontrollen ins Innere der Menschen zu verpflanzen". Dieser Prozeß des heranreifenden Gewissens, der Domestizierung der menschlichen Natur hat den "modernen" Habitus hervorgebracht, also einen "Menschen, der sich von seinem Gewissen leiten läßt und für den die größere Zurückhaltung der Affekte und eine allgemeine Dämpfung von Spontaneität, Aggressivität und Gefühl kennzeichnend ist." Duerr kommt zu dem Ergebnis, daß dieser Prozeß, also das Zivilisationsprogramm des Menschen, heute als gescheitert angesehen werden muß. Andernfalls gebe es nicht diese dramatische Zunahme an Gewalt und Brutalität.

Die zufriedensten Menschen der Erde leben einer Untersuchung zufolge nicht in der "1. Welt", wie zu vermuten gewesen wäre, sondern in Bangladesch, dem ärmsten Land der Erde. Ein Armutszeugnis für alle reichen Industrieländer. "Ich kenne niemanden, der in der westlichen Welt lebt, ohne dazu gezwungen zu sein", meint Houellebecq. Auch Duerr kommt zu der Erkenntnis: "Ich habe erst in Indonesien begriffen, wie weit sich unsere Gesellschaft von kultivierten Umgangstönen, von Tugenden wie Höflichkeit und Dezenz entfernt hat."

In der Tat, der moderne Mensch ist nicht mehr frei. Er ist Gefangener seiner Selbst, seiner Wünsche und Triebe, die in immer stärkerem Maße aus ökonomischen Motiven von außen gesteuert werden. Der moderne Mensch steht ständig unter Streß, denn er steht vor einer unüberschaubaren Zahl und Vielfalt von medial erzeugten Wünschen und Freizeitangeboten. Wir können uns aber eben nicht alle möglichen Wünsche erfüllen, und das macht uns wieder unzufrieden. Der zum Verbraucher degradierte Mensch verliert den Bezug zu sich selbst, das Empfinden für seine wirklichen, ureigensten Bedürfnisse. Statt dessen jagt er einem "Glück" hinterher, von dem er – unterbewußt – glaubt, daß es sich kaufen läßt. Dies suggerieren ihm zumindest die scheinbar glücklichen und fröhlichen Menschen in der Werbewelt.

Ein Gefühl der Befriedigung erzeugt allenfalls noch der Kaufvorgang selbst. Die "Kaufsucht" als Zivilisationskrankheit ist Ausdruck dieses Phänomens. Die Werbung in der Marktwirtschaft suggeriert mittels schöner, glücklich und zufrieden erscheinender Menschen dem potentiellen Käufer: "Das kannst auch Du sein, wenn Du nur unser Produkt kaufst." Spätestens jedoch bei der Anwendung der erworbenen Ware spüren viele Konsumenten eine mehr oder weniger deutliche Unzufriedenheit mit dem Produkt, aber letztlich auch mit sich selbst. Diese Unzufriedenheit wiederum ist das Lebenselexier des Marktes. Denn wo Unzufriedenheit herrscht, da existieren unerfüllte Wünsche, und da läßt sich verkaufen und verdienen. So schließt sich der Kreis.

Die ökonomischen Erfolge der Marktwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten bleiben unbestritten. Die "unsichtbare Hand" des Marktes (Adam Smith) liefert die ökonomisch besten Ergebnisse, leitet die Ressourcen in die effizientesten Verwendungen. Doch was bedeutet die unsichtbare Hand für die Gesellschaft, für das Miteinander der Menschen? Seit Jahren wird allenthalben geklagt, daß Hektik, Verfall der Umgangsformen, Egoismus, Brutalisierung zunehmen. Es ist an der Zeit, die heilige Kuh "Marktwirtschaft" hinsichtlich ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben zu hinterfragen. Derzeit steht eine Weiterentwicklung zur Ideologie des einen globalen Marktes an, doch noch existiert kein ernstzunehmendes alternatives Konzept.

Nur eines ist sicher: Die Marktwirtschaft als der wichtigste "Gesellschaftspolitiker" ist noch nicht das Ende der Geschichte. Eine Befragung des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig unter sächsischen Jugendlichen kam jüngst zu dem Ergebnis, daß nur noch 21 Prozent der Befragten mit dem politischen System der Bundesrepublik zufrieden sind. 1992 waren es immerhin noch 34 Prozent


 
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