© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/00 07. Januar 2000


Johannes Bobrowski: Das sechsbändige Werk des ostpreußischen Dichters
"Volk der schwelenden Haine"
Doris Neujahr

Die Bedeutung der Werkausgabe von Johannes Bobrowski reicht über den Literaturbetrieb hinaus. Denn Bobrowski ist heute der wirkungsmächtigste Dichter und Botschafter des historischen deutschen Ostens, dessen Kunst auch von denen rezipiert wird, die sonst Augen und Ohren verschließen, wenn von dieser Region die Rede ist. Bobrowski, der nie ein Heimatschriftsteller sein wollte, hat im bedächtigen Rhythmus seiner Gedichte (von denen hier allein die Rede sein soll) wie kein anderer den Herzschlag seiner heimatlichen, ostpreußischen Landschaft bewahrt. Mit ihrer Verfremdung als "Sarmatien" und Einbettung in eine weit ins Slawische ausgreifende territoriale, geschichtliche und persönliche Topographie schuf er sich jene Distanz, aus der ihm der Blick auf sie wieder möglich war.

Aus diesem Abstand und in moderner Sprache hat er sie neu entdeckt und für Außenstehende überhaupt erst vermittelbar gemacht. Seine poetischen Bilder ließen Verlorenes wiederentstehen ("Ebene, / riesiger Schlaf, / riesig von Träumen, dein Himmel, / weit, ein Glockentor, / in der Wölbung die Lerchen, hoch", Die Sarmatische Ebene, 1956) und gaben ihm eine einprägsame, sinnliche Präsenz: "Und der Himmel / dunkelt von Vogelheeren. / In der Luft aus schlagenden Flügeln hoch, hoch, / Schilflaut, Brunnenrauch, harziger Wälder Rauch" (Die Memel, 1959). Diese Landschaft birgt Geheimnisse, die Demut wecken, und ist das genaue Gegenteil der durchkalkulierten und domestizierten Natur, welche dem Kulturverständnis einer westgebundenen Bundesrepublik entspricht: "Aus der Finsternis / kommst du, mein Strom, / aus den Wolken. / Wege fallen dir zu / und die Flüsse, Jura und Mitwa ..." Die geläuterte Trauer vermag die erzwungene physische Distanz aufzuheben: "Strom, / alleine immer / kann ich dich lieben / nur (...) / Nun im Dunkel / halt ich dich fest."

Johannes Bobrowski wurde 1917 in Tilsit geboren, 1965 starb er in Ost-Berlin. 1925 verzog die Familie nach Königsberg, 1937 nach Berlin-Friedrichshagen, wohin er 1950, nach Einsätzen an der West- und Ostfront und fast fünfjähriger russischer Kriegsgefangenschaft, zurückkehrte. Abgesehen von den privaten Umständen spielte bei der Entscheidung darüber sein selbstgewählter, in protestantischer Innerlichkeit wurzelnder moralischer Auftrag eine Rolle. Die DDR, wo die religiös verbrämte Rede von Neubeginn, vom "Neuen Menschen" und seiner schmerzhaften, dafür ehrlichen und tiefgreifenden Läuterung Teil des offiziellen Vokabulars war, war für ihn eine säkulare Möglichkeit, sein Bedürfnis nach gelebter Reue über eigene Schuldverstrickungen zu stillen. Zugleich ging es ihm darum, im verbliebenen deutschen Sprachraum so weit östlich wie möglich zu leben. Die Kunstdoktrinen der SED ließen ihn unbeeindruckt. In der kurzen ihm verbleibenden Lebensspanne schuf er vor allem drei Gedichtbände, zwei Romane und eine Anzahl Erzählungen.

Die Gedichte der Königsbergerin Agnes Miegel kannte er gut: "Agnes Miegel ist eine große Dichterin. Nur daß sich bei ihr die Altjüngferlichkeit so aufdringlich zeigt, ist fatal." Seine "Frauen der Nehrungsfischer" (1955) zum Beispiel enthalten Anspielungen an die Miegel-Balladen "Die Frauen von Nidden" und "Das Opfer". Gleichzeitig fallen die fundamentalen Unterschiede ins Auge. Miegel verstand ihre Dichtung als "Gespräch mit den Ahnen". Das "Ewige" suchte sie in vermeintlich zeitlosen Metaphern zu erfassen, so daß ihre Landschaften und Städtebilder mystischen Urlandschaften gleichen, in denen sich Geographie und menschliches Schicksal auf rational nicht faßbare Weise verbinden und vom Gang der Geschichte unberührt bleiben. Das Urvertrauen in die eigene Mission spricht noch aus dem späten Gedicht "Gib Erde, gib" (1953): "Laß die Jahrtausende gehn und verwehn! / Laß uns sehn / Was du sorglich verborgen in deinem Schrein."

Für Bobrowski war eine vergleichbare Poetik unmöglich. Die Erfahrung von Verlust und Trauer war die Voraussetzung seiner lyrischen Reflexion über die Heimat: "Folgend der Bitternis, legen / wir Holz zu den Feuern der Fremde, / wissen ein Lied noch: einst / blühte der Apfelbaum.", heißt es im Gedicht "Die Daubas" (1954). Die Linderung, die ihm das Kindheitsbild verschafft, schlägt sogleich wieder in hölderlinsche Verzweiflung um: "Wo denn / wollen wir bleiben?" Bobrowski dazu in einem Brief von 1957: "Die Daubas ist ein Stück Memelufer in der Nähe von Ragnit, mit ein paar Dörfern und Wald. Es liegt zwischen meiner Geburtsstadt Tilsit und den Dörfern meiner Kindheit, in die ich durch meine Heirat zurückkam. Das ganze meint natürlich meine Situation überhaupt. Das Gedicht steht mir am nächsten von allem, was ich geschrieben habe." Dem Leser erschließt sich eine zusätzliche Dimension der Verse "Komm,/ Liebste, du bleibst noch – so / sehn ich mich nicht", wenn er erfährt, daß Bobrowski oft zu seiner aus Ostpreußen stammenden Frau Johanna sagte, er habe es gut, weil er in ihr die Heimat stets bei sich habe.

Das Bewußtsein des irreversiblen Verlusts ließ ihn nach verborgenen, weit zurückliegenden Konflikten und Zusammenhängen suchen, in denen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts potentiell angelegt waren. Seine Landschaften sind damit immer auch Bereiche sozialer, geschichtlicher, kultureller Erfahrungen und Brüche und tragen deren Spuren. 1962 erklärte er in einem Vortrag: "Ich befasse mich, nach meiner Ansicht, mit dem Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvölkern. Ich benenne also Verschuldungen der Deutschen, und ich versuche, Neigungen zu erwecken zu den Litauern, Russen, Polen usw." Erreichen wollte er das durch authentisches Erzählen, nicht durch Empfehlungen oder Anweisungen. Diese Wirkungsstrategie war durchaus suspekt und von den Propagandaformeln der DDR über Völkerfreundschaft ebenso weit entfernt wie vom heutigen opportunistischen Betroffenheits-Gerede. Als aktuelles Gegenstück dazu kann man Martin Walsers Forderung nach privater Gewissenserforschung und Selbsterkenntnis in Bezug auf die Verbrechen des Dritten Reiches ansehen. Eben diese schonungslose persönliche Authentizität eröffnete Bobrowski neue literarische Möglichkeiten. Sie war die Vorbedingung für seine literarische Vergegenwärtigung der verlorenen Landschaft.

Parallel dazu aber war die Gefahr, daß die "Schuldfrage" sich verselbständigte und in einem moralischen Rigorismus umschlug, der seine Literatur schwer beschädigte, auch bei Bobrowski unübersehbar. In einer biographischen Notiz für den Süddeutschen Rundfunk 1957 schrieb er "von der unlösbaren Verwurzelung in einer Landschaft, die mit allem Recht verloren ist". Selbst wenn man die politischen und psychologischen Alibi-Funktionen dieser Äußerung in Rechnung stellt, ist die Nähe zur populären Schuldtheologie nicht zu übersehen.

Daß er sich künstlerisch und persönlich auf einem schmalen Grat befand, hat er gefühlt. Im dem zitierten Vortrag sprach er davon, daß ein Thema, indem es als literarisches Experiment entdeckt und interessant wird, unversehens von innerkünstlerischen Form- und Bewegungsgesetzen absorbiert werde. "Zum Schluß hat sich der Anlaß verflüchtigt, das Kunstwerk hat sich auschließlich als Kunstprodukt an die Stelle des vorhanden gewesenen Anliegens gesetzt." Bei ihm bestand die Gefahr allerdings umgekehrt darin, daß das moralische Anliegen, indem es zum Dogma wurde, sich immer wieder der künstlerischen Verarbeitung verweigerte, und in geschichtsphilosophischer Hybris mündete. Man muß heute kritisch fragen, ob Bobrowski nicht mit einigen seiner Gedichte den modischen Betroffenheits-Duktus vorwegnahm, mit allen unausbleiblichen, ästhetisch fragwürdigen Folgen, und ob seine allgemeine Popularität nicht weitgehend auf der zweifelhaften Funktion als Säulenheiliger der deutschen Selbstzerknirschung, das heißt: auf einem Mißverständnis, beruht.

Paul Celan, der Dichter der "Todesfuge", hat den falschen Ton mancher Verse früh erkannt und 1962 in einem Brief gespottet: "Gelegentlich zaubert man sogar ‘Pruzzisches’ aus dem Boden." Er spielte auf die "Pruzzische Elegie" (1952) an, die sich bis heute allgemeiner Beliebtheit erfreut und vielen Bobrowski-Anhängern als Schlüsselgedicht gilt. Darin behandelt Bobrowski unmittelbar das Thema historischer Schuld am Beispiel des vom Deutschen Orden ausgerotteten Volkes der Pruzzen: "Volk / der schwelenden Haine, / der brennenden Hütten, zerstampfter / Saaten, geröteter Ströme – / Volk, / geopfert dem sengenden Blitzschlag; dein Schreien verhängt vom / Flammengewölk (...)" Sein Biograph Gerhard Wolf raunte bedeutungsschwer: "Sprache der Vergessenen". Das aber ist sie gerade nicht! Die anbiederische Anrufung erzählt keineswegs von den ausgerotteten Pruzzen, sondern vom unbewältigten Schuldtrauma Bobrowskis und von seinem – unbewußten – Ausweichen vor ihm.

Für Celan handelte es sich denn auch um die Verdrängung von Schulderfahrung, um gönnerhaften Philosemitismus und mythische Überhöhung der Pruzzen. Nachzulesen ist das im Aufsatz von Hendrik Birus "Paul Celans ‘Hüttenfenster’ – ein Wink für Johannes Bobrowski?" (in: "Hermenautik und Hermeneutik", Würzburg 1996). Im Gedicht "Hüttenfenster" aus dem Band "Die Niemandsrose" zielte Celan sogar offen auf Bobrowskis "Die Heimat des Malers Chagall" (1956), in dem dieser die Tradition des vernichteten Ostjudentums beschworen hatte. Celan erkannte in diesem Artikulationsversuch der "Schuld" die "imaginäre Identifikation des Mit-Täters mit den Opfern" und stellte dem sein Bild "vom Schwarzhagel, der / auch dort fiel, in Witebsk", dagegen, und fuhr dann fort: "und sie / die ihn säten, sie / schreiben ihn weg / mit mimetischer Panzerklaue!" Ursprünglich sollte das Gedicht sogar den Titel "Statt eines Winkes" tragen. Auf dem Manuskript hatte Celan handschriftlich hinzugefügt: "Und wollen im Mordjahr / gewesen sein die sie gemordet".

Dieser Konflikt zwischen Celan und Bobrowski könnte wegweisend für den künftigen, notwendigerweise kritischen Zugang zu Bobrowskis Werk sein. Das würde ihm nicht einmal schaden. Im Gegenteil: Bobrowskis wirklich bedeutenden Dichtungen – und die Gedichte über die geschichts- und konfliktgesättigten östlichen Landschaften gehören dazu – würden danach nur um so bedeutender erscheinen.

 

Johannes Bobrowski: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Eberhard Haufe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1998/99. Zusammen 360 Mark. Auch in Einzelbänden erhältlich (Bd. 1 bis 4 je 58 Mark, Bd. 5 und 6 je 64 Mark)


 
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